In der Idee des vereinigten Europa verdichtet sich die Erfahrung der europäischen Kriege. Unter keinen Umständen sollen sie sich wiederholen können. Es ist dieses hohe Ethos, das der europäischen Idee die Weihe und Unangreifbarkeit verleiht. Wer daran kratzt, gilt als leichtfertig und unbelehrbar.
Hans Magnus Enzensberger dreht den Spiess um. Die Idee des vereinigten Europa stellt für ihn ein hohes Gut dar und er versäumt es nicht, die politischen und wirtschaftlichen Vorteile der Europäischen Union in höchsten Tönen zu loben. Enzensberger ist nun einmal ein weltläufiger Literat, für den die europäische Aufklärung das unerschütterliche geistige Fundament bildet.
Erbarmungslos menschenfreundlich
Aber er beschreibt den Prozess der europäischen Einigung als zunehmende Entmündigung. Die Politiker und Bürokraten in Brüssel sind für ihn eine neue Klasse von Diktatoren, die sich nicht mehr mit Gewalt durchsetzen, sondern sich „auf leisen Sohlen“ bewegen und „erbarmungslos menschenfreundlich“ sind. „Hier wird nicht an einem neuen Völkergefängnis gebaut, sondern an einer Besserungsanstalt, der die gütige, aber strenge Aufsicht über ihre Schutzbefohlenen obliegt.“
Mit funkelndem Witz macht sich Enzensberger über die Aufblähung der Brüsseler Bürokratie lustig. Gründlich hat er vor Ort recherchiert und und den Typus der dort waltenden Bürokraten herausgearbeitet. Grundsätzlich gilt: „Diese Beamten vertreten die Staatsraison eines Staates, den es gar nicht gibt.“ Aber das ändere nichts an der hohen Motivation des durchschnittlichen Beamten: „Was ihn beflügelt, ist sein Sendungsbewusstsein. Er muss stark genug sein, um mit gelegentlichen Zweifeln, gegen die kein intelligenter Mensch gefeit ist, fertig zu werden. Mit ideenarmen Bürokraten hat man es jedenfalls nicht zu tun.“
Jenseits der Demokratie
Es liegt also nicht an diesen oder jenen Personen, dass Brüssel zu einem „sanften Monster“ geworden ist. Vielmehr lässt sich die Fehlentwicklung nur „systemtheoretisch“ begreifen. Die ursprüngliche Absicht, durch vereinheitlichende Strukturen der Politik und Verwaltung eine Vereinfachung des täglichen Lebens zu erzielen, hat das Gegenteil bewirkt. Jede Verordnung und jede Organisation zieht neue Verordnungen und neue Verwaltungen nach sich. „Solche Einrichtungen spriessen sozusagen naturwüchsig wie Rosenkohl aus dem Boden. Dieses Gemüse heisst nicht umsonst auf englisch Brussels sprouts. Solche Gewächse gehorchen dem Prinzip der Selbstähnlichkeit; sie bringen immer neue Röschen hervor.“
Jede bürokratische Organisation verhalte sich so, „als würde sie von den Geheimagenten ihrer Gegner geleitet“, konstatiert Enzensberger, aber seine Analyse greift weiter aus als diese Polemik. Mehr oder weniger absichtlich hätten die Initiatoren der europäischen Einigung Institutionen jenseits der demokratischen Kontrolle geschaffen. So beschliesse der Europäische Rat den Haushalt ohne wirksame parlamentarische Kontrolle. Denn das Europa-Parlament könne nur in Übereinstimmung mit dem Europäischen Rat über das Budget entscheiden. Deshalb könne ein einziger Ratsvertreter die Haushaltsbeschlüsse des Parlaments blockieren.
Diese Verselbständigung politischer Entscheidungsebenen ist keine Spezialität der Europäischen Union. Die USA kennen das „executive privilege“, das es dem Präsidenten der USA erlaube, „Kriege vom Zaun zu brechen, Konzentrationslager wie Guantanamo einzurichten, Foltermethoden zu legitimieren, Entführungen und gezielte Tötungen anzuordnen.“ In dieser zunehmenden Legitimation des „Ausnahmezustands“, wie Giorgio Agamben sagen würde, sieht Enzensberger einen globalen Trend.
Politische und ökonomische Enteignung
Dieser Trend folge einer Analyse von Hannah Arendt, die schon 1975 „das Nötige“ dazu gesagt habe. Er besteht darin, dass alle Staatsformen sich „zu Bürokratien entwickeln“, die mit „anonymen Büros oder Computern“ ihre Herrschaft ohne jedes „Minimum an Zivilität“ ausüben. In der europäischen Union zeige sich das auch an der Sprache. Die Entscheidungen würden, wie jetzt die „Rettung Griechenlands“, als „alternativlos“ hingestellt. „Dass der politischen Enteignung die ökonomische folgt, entbehrt nicht der Logik.“ Die Reaktion der Bürger bestehe nicht im aktiven Widerstand, sondern in „Teilnahmslosigkeit und Zynismus“.
Weiss Enzensberger Abhilfe? In einem fiktiven Dialog mit einem Brüsseler Beamten am Schluss seines Essays zitiert Enzensberger Karl Valentin: „Hoffentlich wird es nicht so schlimm, wie es jetzt schon ist.“ An Stelle des „Weiter so“ und „Augen zu und durch“ empfiehlt er eine freiwillige Begrenzung der Brüsseler Institutionen, obwohl der Rückzug „die schwierigste aller Operationen“ sei.
Diese Empfehlung Enzensbergers ist weniger wichtig als seine Kritik, die zeigt, dass man auch als überzeugter Europäer Irrwege auf dem Weg zur politischen und wirtschaftlichen Union kritisieren kann. Enzensberger leistet mit seinem Essay einen essentiellen Beitrag zur politischen Kultur Europas.
Hans Magnus Enzensberger, Sanftes Monster Brüssel oder die Entmündigung Europas, Edition Suhrkamp, Sonderdruck, Berlin 2011