Namenlos hat er während dreier Tage im August ein ansehnliches Publikum angezogen – der «gestrandete» künstliche junge Pottwal. Ein Menetekel? Im 16. Jahrhundert gewiss, aber heute? Doch eher ein Coup des Theaterspektakels.
Wäre der Wal vom Zürcher Utoquai tatsächlich gestrandet, und befänden wir uns mit dem deutschen Gelehrten Adam Olearius im 17. Jahrhundert, so bestünde, aufgrund antiker Berichte, kein Zweifel: Das Omen vom Zürichsee bedeutet baldigen Friedensschluss – ob in der Ukraine, ob in Gaza, wer wüsste es zu sagen. Wäre der Wal hingegen mitten im Frieden gestrandet, so stünde ein Kriegsausbruch bevor. Hundertfünfzig Jahre zuvor hatte Martin Luther in einem Brief mit Verweis auf die Verfolgung der Evangelischen in den Niederlanden und ein bei Haarlem gestrandetes «Seeuntier, Cetus [Walfisch] genannt», festgehalten: «Dieses Monstrum hält man aufgrund alter Beispiele für ein sicheres Zeichen göttlichen Zorns.»
Der gestrandete Wal
Kriege und göttliches Mahnwort hin, Klimaprophezeiungen her: Wale stranden nicht erst seit Jahrhunderten, sondern seit Jahrmillionen, welches auch immer im einzelnen die Gründe dafür sein mögen. Immer aber konnten sie sich des Interesses der Menschen sicher sein. Nicht bloss bei Jägervölkern, auch in einer Subsistenzwirtschaft, die oft nur gerade das Nötigste auf den Tisch brachte, vermittelten (frische) Kadaver oder gar noch lebende Tiere mit ihren Unmengen an Fett, das zu Öl ausgelassen werden konnte, und Fleisch statt ominösen Botschaften wohl eher solche vom Schlaraffenland. (Allerdings sind auch Fälle überliefert wie derjenige von den 28 südafrikanischen Fischerleuten, die 1879 nach dem Genuss von Fleisch zweier eben gefangener Entenwale starben. Hier könnte Botulismus im Spiel gewesen sein.)
Da wir es in Zürich aber mit einer Kunstaktion im Zusammenhang mit dem Theaterspektakel zu tun haben, mag daran erinnert sein, dass die Küsten Flanderns und der Niederlande eben auch der Ort waren, von dem aus im 16. Jahrhundert die Ikonografie des gestrandeten Wals zu neuen Darstellungsformen fand. Dies durch die Druckgrafik, die sich in der Form von Flugschriften und Flugblättern schnell über ganz Europa ausbreitete. Auslöser war eine Häufung von Walstrandungen: 1577 erst im Juli drei Pottwale in der Scheldemündung, dann im November nochmals drei Pottwale unweit von Den Haag, 1594 ein weiblicher Grindwal bei Zandvoort, der ebenfalls über Jahrhunderte kopiert werden sollte, vor allem aber die in Wort und Bild festgehaltenen Pottwalstrandungen von 1598 und 1601.
Besonders wirkmächtig wurde Hendrick Goltzius' Kupferstich des am 3. Februar 1598 bei Berkhey unweit von Den Haag gestrandeten Pottwals. Viel Volk hat sich da versammelt, und während einige bereits damit beschäftigt sind, das Fett aufzuhacken und in Eimern wegzutragen, ist ein anderer dabei, den durch den Abfall des Turgors ausgeschachteten gewaltigen Penis zu vermessen; das wohl noch nicht geschlechtsreife Zürcher Exemplar, nicht einmal halb so mächtig wie der Gigant bei Goltzius, zeigt denn auch diese Ausschachtung nur im Ansatz.
Interessant zu beobachten ist bei diesen Darstellungen, wie sich Ominöses, Allegorisches und Parabelhaftes allmählich den Raum mit einer naturkundlichen Sichtweise zu teilen beginnt. War das Sujet im ersten Viertel des 17. Jahrhunderts auch ölgemäldetauglich geworden, so hatte sich zur Mitte des Jahrhunderts hin alles Gleichnishafte verflüchtigt.
Eine Sonderstellung nimmt zweifellos die Abbildung des weiblichen Zwergwals ein, der 1669 bei Bremen in die Lesum, einen Nebenfluss der Weser, geraten war. Nachdem es von Bauern brutal zu Tode gebracht worden war, hatte der «Maler und Contrefaiteur» Franz Wulfhagen «auf Geheiss des Rathes» das Tier, bevor es «zerschnitten und daselbst zu Thran verbrannt» wurde, «zum immerwährenden Andenken» abzubilden. Was er denn in einer spektakulären 1:1-Darstellung auf 955 x 355 Zentimetern auch tat. In den Worten des erklärenden Texts unter dem Bild ist «die länge dieses fisches befunden vom maul biß […] zum schwantze 29 fueß». Nach etlichen Umwegen und Havarien hängt dieses einzigartige Walporträt seit 2008 restauriert wieder an seinem alten Ort im Bremer Rathaus.
Wenn da nun also ein toter Pottwal am Ufer des Zürichsees liegt, stellt sich unter anderem die Frage, wem er gehört. Nicht der Krone wie anderswo, aber vielleicht der Wissenschaft? Und was mit ihm werden soll. Wie, wenn es nicht nur einer gewesen wäre, sondern ein paar Dutzend, die gestrandet sind und deren Kadaver zu einem hygienischen Problem werden? Dass dies keine rhetorische Frage ist, illustriert die Strandung eines weiblichen Blauwals im September 1979 in Nordkalifornien, an dessen Kadaver sich kein Wissenschafter heranwagte aus Angst, vom Staat zur Entsorgung verpflichtet zu werden.
Vorausgegangen war dieser Episode die Massenstrandung von 41 Pottwalen an der Küste von Oregon im Juni 1979, deren enorme mediale, wissenschaftliche, tierschützerische, polizeiliche, sanitarische und finanzielle Weiterungen Barry Lopez in einer grossartigen Reportage ausgeleuchtet hat.
Eine Möglichkeit, einen gestrandeten Wal zu töten, wenn er nicht wieder ins Wasser geschafft werden kann, oder ein totes Tier zu beseitigen, kann die Sprengung sein. Mit welchen Unwägbarkeiten das allerdings verbunden sein kann, zeigte sich im November 1970 bei Florence in Oregon, wo es um einen toten Pottwal ging. Das nicht einmal 14 Meter grosse Tier musste schliesslich mit einem Bagger beseitigt werden, nachdem nur ein kleiner Teil in die Luft geflogen war – genug, um auf das in vermeintlich sicherer Entfernung versammelte Publikum einen Regen aus ranzigem, verwesendem Fett niedergehen zu lassen, wobei die hinter der Düne abgestellten Autos ein Bombardement aus Fleischfetzen und Knochen abbekamen, das bei mehreren Cabrios die Stoffdächer zerschmetterte – das einschlägige Video gehört trotz miserabler Bildqualität zu den Hits auf Youtube. Bei der obenerwähnten Massenstrandung von 1979 verzichteten die Behörden daher wohlweislich auf Sprengungen; die Kadaver wurden mit Kettensägen zerteilt und dann vergraben.
Eau de baleine …
Der Zürcher Wal, der nach einem Dutzend vorgängiger Stationen am Utoquai Station gemacht hat, ist ja, bei aller Kurzlebigkeit, ein Phänomen sui generis. Ist hier doch die Gleichzeitigkeit von als gestrandet behauptetem «Lebewesen» und Ausstellungsobjekt aus der Sphäre der Kunst erreicht. Dabei ist das Artefakt aus der Werkstatt Captain Boomer ein nur schon durch seine Dimensionen respektheischendes Stück Prothetik; bloss die Haut erinnert eher an diejenige eines Furchenwals, und die Zähne scheinen etwas willkürlich geraten. Aber sonst ist der Kopf ganz so, wie ihn bereits Friedrich Gerstäcker beschrieben hat: «Die Form des Spermfisches ist eigenthümlich; der Kopf nach vorn vollkommen abgestumpft, und von einer Masse, die sich anfühlt wie Gummi elasticum.» Mitte des 19. Jahrhunderts als Passagier auf einem Walfänger im Pazifik mitgefahren, hat der Schriftsteller soviel über Walfang und Wale geschrieben wie kein anderer deutschsprachiger Autor.
Das um die zwei Meter hohe, gut fünfzehn Meter lange Tier befindet sich, wie bei gestrandeten Zahnwalen üblich, in Seitenlage. Blubber scheint er kaum gehabt zu haben. Die eingefallenen Konturen zeigen, dass der Kadaver noch frisch ist; die Fäulnisgase, die ihn allmählich auftreiben und schliesslich explodieren lassen werden, äussern sich hier erst als dezentes Eau de baleine respektive Eau de cachalot … Irren wir uns, oder kommt der Duft aus dem Wasser, mit dem die Ausstellungsmacher das Objekt laufend abduschen? Keine Rede kann natürlich davon sein, dass die leichte Fischnote in der Luft dem tatsächlichen Verwesungsgeruch eines Wals entspräche: Dergleichen bestialischer Gestank hätte den Utoquai innert Minuten leergefegt.
Aber es kann einem auch ergehen wie dem französischen Schriftsteller Paul Gadenne vor einem 1948 in der Loire-Mündung zu Tode gekommenen Weisswal: «Doch ungeachtet alles Übrigen gab es ein Detail, das uns daran erinnerte, dass diese Sache lebend gewesen war: Das war der Geruch. Es war nicht unerträglich, nicht einmal von nahem. Es war wie der schwach modrige Geruch aus einem Abflusskanal. Ein Geruch, der sich augenblicksweise sogar zu ausgesuchter Süsse steigerte, die die Einbildungskraft durchaus beflügeln konnte.» Bei Luigi Malerba, von dem gleich die Rede sein wird, entfaltet dieser allerdings formalingeschwängerte Geruch geradezu aphrodisiakische Wirkungen. Wenn die Epiphanie des Wals aber, wie bei Malerba, nicht zuletzt des Geruchs wegen zum Liebesrausch führt, dann sind wir unversehens wieder bei der alten Vorstellung vom Wal, der, um seine Beute anzulocken, Wohlgerüche verströmt.
Der ausgestellte Wal
Die Faszination des gestrandeten Riesentiers liess sich weiten Teilen Europas, die von einem derartigen Schauspiel ausgeschlossen waren, vorerst nur durch die vielfach reproduzierte niederländische Druckgrafik vermitteln. Naheliegend war da der Gedanke, nicht nur die Abbildung, sondern den toten Wal selbst zum binnenländischen Publikum zu bringen. Das 19. Jahrhundert stellte dann erste Transportmittel bereit. Bevor man jedoch daran denken konnte, das ganze Tier zu verladen, war nur schon die Präsentation des Skeletts eine Herausforderung. Das offenbar geradezu kultische Bezüge eröffnen konnte wie das gewaltige Pottwalskelett in «Moby-Dick», das Ismael auf einer pazifischen Insel einst gesehen und aus dem er nur mit Hilfe eines Ariadnefadens überhaupt wieder hinausgefunden haben will.
Berühmt ist der «Wal von Ostende» geworden. Fischer im Kanal hatten im November 1827 einen tot im Meer treibenden ungewöhnlich grossen weiblichen Blauwal von 29 Meter Länge gefunden und unter enormen Anstrengungen an Land gebracht. Wie Dewhurst zu entnehmen ist, der den Fall in seiner «Natural History of the Order Cetacea» (1834) detailliert darstellt, bereitete nur schon die Bestimmung des Tiers den Sachverständigen grösste Mühe. Zu welcher Art das fragliche Exemplar auch immer gehören möge, schloss der Autor, «so ist es doch zweifellos das grösste Tier, das je gefangen wurde, und ohne zu zögern sage ich, dass das Skelett das perfekteste in Europa ist». Vom niederländischen König war der Kadaver an einen Unternehmer verkauft worden, der sich jedoch auf die Seite der aufständischen Belgier schlug, was dazu beigetragen haben mag, dass das Skelett schliesslich ins Naturhistorische Museum von Sankt Petersburg gelangte. Zwischen 1828 und 1834 war es mit grossem Erfolg in England, Frankreich und Holland gezeigt worden, und zwar in einem leicht zerlegbaren und transportierbaren, eigens zu Ausstellungszwecken konstruierten hölzernen Pavillon. Dass sich die Phantasie davon nicht einengen zu lassen brauchte, illustriert ein französischer Stich der «Baleine d’Ostende» von 1829, auf dem zwergenhaft Elefant und Giraffe «zu Besuch» kommen und ameisengleich die Besucherschlange im Maul des wieder unversehrten Wals verschwindet.
Im Binnenland
Von den Stücken, die in die Schweiz gelangt sind, sind zweifellos die Exponate des Naturhistorischen Museums Freiburg die bedeutendsten.
Das beeindruckende Skelett eines männlichen Pottwals steht neben dem einzigartigen Präparat eines jungen Seiwals.
Ohnehin eine Rarität sondergleichen, gilt das vollständig konservierte, gut zwölf Meter lange Tier weltweit als einzigartig, weil durch eine heute verlorene Konservierungsmethode sogar seine Haut erhalten geblieben ist. Mindestens so erstaunlich ist die Geschichte ihrer Provenienz, die in zwei teilweise weit auseinanderliegenden Varianten erzählt wird. Die «offizielle» lautet, dass der junge Bartenwal im November 1880 bei Dünkirchen gestrandet war, im Auftrag des Museums präpariert wurde, bis er im April 1882 in Freiburg ankam. In der andern Version wäre er 1852 bei Le Havre gestrandet, sodann, als «Marlene», jahrelang zusammen mit dem Pottwalskelett umhergezogen, bis die beiden dann 1881 in Freiburg ihre Bleibe gefunden hätten.
Zwar ist es nur der Unterkiefer, aber im Musée de zoologie von Lausanne ist man zu Recht stolz auf das imposante Stück von knapp 4,9 Meter Länge, das von einem 1838 bei Le Havre gestrandeten Pottwal stammt. (Das Walfangmuseum Nantucket besitzt einen Unterkiefer von 5,4 Meter Länge; der gigantische Pottwalbulle, von dem er stammt, wurde 1865 erlegt und mass beinah 87 Fuss, entsprechend 26,5 Meter. Der Genpool für Tiere dieser Grösse scheint längst schon vernichtet.) Im Naturhistorischen Museum Basel ist das 1873 erworbene Skelett eines Nördlichen Zwergwals zu sehen (von derselben Grösse wie das Konterfei im Bremer Rathaus). Schnabelwale nennen das Muséum d’histoire naturelle in Genf mit dem raren Skelett eines Cuvier-Schnabelwals sowie das Naturhistorische Museum Bern mit einem Dögling oder Nördlichen Entenwal ihr eigen. Das überragende Stück dort ist natürlich das Finnwalskelett, das 1898 «samt Harpune» von einem Stanser Wirt für 200 Franken ersteigert wurde.
Hier liegt der Gedanke nahe, ob es sich nicht um dasselbe Exponat handelt, das 1896 im «Krienser Anzeiger» beworben wurde. Da war für den 10. bis 15. November im Saal zur «Linde» ein «Riesen-Walfisch» angekündigt: «Die Dimensionen dieses Riesen-Skelettes», hiess es, «sind ganz gewaltig; es haben im Bauche 20 Personen Platz zum sitzen und im Rachen steht ein Tisch und Stühle, so dass 6 Personen gemütlich darin jassen können. Die Riesenmordwaffe, Granatharpune, ist ebenfalls zu sehen. Erklärungen finden fortwährend über das Leben und Treiben dieser Meerungeheuer statt.» Zum Abschluss gebe es «Sonntag, den 15. November, von nachmittags 2 Uhr an Concert im Walfischbauch».
Zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, nach dem Krieg, hatte dann die Stunde von Mrs. Harøy geschlagen. Der vor der gleichnamigen norwegischen Insel harpunierte, 23 Meter lange und 55 Tonnen schwere weibliche Finnwal war ab 1954, vollgepumpt mit Formalin, auf einem Eisenbahnwagen durch 165 europäische Städte gekommen. Nicht zuletzt literarisch hat er seine Duftspur hinterlassen. «Mrs Haroy, ou, La mémoire de la baleine: Chronique d’une immigration» (1993) hat der Luxemburger Jean Portante seine Kindheitserinnerungen betitelt. Zuvor hatte sie Gertrud Leuteneggers von romantischem Drängen durchpulsten schönen Zweitling «Ninive» (1977) und nochmals davor Luigi Malerbas umwerfenden satirisch-pornografischen Roman «Der Protagonist» (1973) inspiriert. Ein anderes Tier hingegen stand der 1956 erschienenen fulminanten politischen Satire «Wal-Rummel» des in Sarajewo geborenen Serben Erich Kosch (Erih Koš) Pate.
Disziplinierte Zürcher
In Zürich ist die Sache ja gut ausgegangen. «Immerhin ist zu hoffen», heisst es bei Getrud Leutenegger, «dass unsere Bevölkerung nicht so aus dem Häuschen geraten wird, wie das da und dort im Schweizerland der Fall war. So zum Beispiel stellte die ungeduldig Einlass begehrende Menge in Aarau ein Kassenhäuschen mitsamt der Kassiererin auf den Kopf, und in Langenthal turnten die in Begeisterung geratenen Zuschauer sogar auf dem Rücken des Walfisches herum, bis sie von der Ordnungspolizei wieder heruntergeholt wurden.»