Zu oft wird «Asien» entgegen aller Evidenz primär mit der Volksrepublik China gleichgesetzt. Die nicht-chinesische Grossregion Asien-Pazifik ist aber in allen Belangen grösser und wichtiger als die PRC. Indien allein, eine offensichtliche regionale Grossmacht übertrifft heute bevölkerungsmässig China. Der nicht-chinesische Teil Asiens zusammengenommen lässt die Volksrepublik an Wirtschaftskraft und -potential weit hinter sich.
Dabei wird für diese Kurzanalyse des Indo-Pazifiks ohne China die globale Supermacht USA, auch eine pazifische Grossmacht, hier nur mit Blick auf sicherheitspolitische Aspekte berücksichtigt.
Ebenso offensichtlich ist allerdings, dass im nicht-chinesischen Asien sehr unterschiedliche Staaten zusammenkommen. Entsprechend erfolgt die Gliederung wie folgt: Zunächst Indien, dann Japan und Korea, weiter Südost-Asien, also die ASEAN, und schliesslich der pazifische Raum, Australien und die Inseln. Allen diesen Ländern gemeinsam ist immerhin ein Hauptproblem: Die Abwägung von Sicherheitsinteressen einerseits, im Grossraum von der Abwehr der chinesischen Expansion geprägt und durch die fortdauernde «Pax Americana» gewährleistet, und andererseits den Wirtschaftsinteressen, welche nach einer «working relationship» mit China verlangen.
Indien
In Indien haben soeben Parlamentswahlen stattgefunden, welche mit einer handfesten Überraschung endeten. Der selbstherrliche, ja grössenwahnsinnige Narendra Modi – er fragte sich öffentlich und ernsthaft, ob er von einer Mutter geboren oder doch von den Göttern zum Wohle Indiens gesandt sei – wird weiterhin Premierminister bleiben, muss aber seine Hindupartei in eine Koalition einfügen.
Das Land steht vor einer Zäsur. Entweder besinnen sich Modi und seine Partei auf die Geschichte des unabhängigen Indiens als eines demokratischen Vielvölkerstaates mit grundsätzlich unabhängiger Justiz oder er führt Indien ungeachtet des Volksverdiktes an den Abgrund eines Bürgerkrieges: Arm gegen (Neu)reich und Hindus gegen Muslime und andere nicht-hinduistische Minderheiten. Zeigt er keine Einsicht, verspielt er eine Chance, wie sie sich in der Geschichte nur einmal bietet. Denn durch eine bislang unter Modi durchaus erfolgreiche, wenn auch noch weit verbesserungsbedürftige Wirtschaftspolitik und der von Xi Jinping selbst verschuldeten kontinentweiten Abkehr von China kann Indien zum Bannerträger des nicht-chinesischen Asiens werden.
Dies liegt allerdings, wenn überhaupt, noch in der Zukunft. In der sicherheitspolitischen Ausrichtung hat Modis Indien die grundsätzliche Kehrtwende von Allianzfreiheit zu einer De-facto-Einfügung in die nicht- chinesische Abwehrfront gegen Beijing bereits vollzogen. In der Wirtschafts- geschweige denn in der Sozialpolitik bleibt noch sehr viel zu tun, bevor Delhi den von Modi voreilig eingeforderten Status einer weltweiten Grossmacht erreicht.
Japan und Korea
Japan gehört zweifelsohne zu den wenigen regionalen Grossmächten. Hier ist der erwähnte Balanceakt zwischen den USA und China speziell ausgeprägt. Nach rund 30 Jahren Stagnation blüht die japanische Wirtschaft wieder auf. Dies ist auf Konjunkturmassnahmen der Regierung – endlich sind die Zinssätze wieder ins knapp Positive gerutscht – und auf die immer stärker werdende «Weg-von-China»-Losung für globale Unternehmen und Investoren zurückzuführen. China bleibt aber weiterhin ein wichtiger Faktor für die japanische Wirtschaft, sowohl was Fertigung als auch Investitionen anbelangt.
Eindeutig ist die Lage im sicherheitspolitischen Umfeld Japans. China wird seit einiger Zeit primär als Bedrohung wahrgenommen. Tokio rüstet momentan massiv auf. Entsprechend ist Japan auch Gründungsmitglied der antichinesischen Struktur Quad (Quadrilateral Security Dialogue, zusammen mit den USA, Australien und Indien). Sicherheitspolitisch noch wichtiger ist die Annäherung Japans an die AUKUS (Australia, UK, USA) mit direkter militärischer Ausrichtung gegen China.
Beides sind auch Abwehrmassnahmen, um China von gefährlichem Tun mit Bezug auf Taiwan und die Unterstützung Nordkoreas abzuhalten, welche beiden potentiellen Krisenherde für Japan speziell verheerende Auswirkungen hätten; so würde etwa die Blockierung der Taiwanstrasse Japans Aussenhandel schwer treffen. Auch bilateral legt Tokio Stolpersteine auf den Weg chinesischer Expansion im Grossraum. So sollen japanische Truppen zum ersten Mal seit dem 2. Weltkrieg in den Philippinen stationiert werden, um der dreisten Militarisierung des südchinesischen Meers durch Beijing Widerstand zu leisten.
Insgesamt kann Japan zu den engen Verbündeten der USA im Grossraum gezählt werden. In Tokio ist damit die Sorge sehr ausgeprägt, ein verlässliches Washington zu verlieren, wenn der unberechenbare und irrational handelnde Trump ins Weisse Haus einziehen sollte.
Korea hat vor ein paar Jahren Japan beim Pro-Kopf-Einkommen überholt und gilt weiterhin als ein blühendes Wirtschaftswunderland mit resistenter Demokratie. Neben der wie in Japan immer ungünstiger werdenden Altersstruktur der Bevölkerung sind es insbesondere zwei Faktoren, die das politische und wirtschaftlichen Weiterwachsen im bisherigen Tempo beeinträchtigen könnten.
Innenpolitisch stehen sich mit Blick auf den tyrannischen und neuerdings offen feindseligen «Bruderstaat» im Norden die Falken – im Moment an der Regierung, aber mit einer Schlappe anlässlich der letzten Kommunalwahlen – und die Tauben, welche nach wie vor eine friedliche Einigung mit Nordkorea als vorrangiges Ziel sehen, immer unversöhnlicher gegenüber.
Wirtschaftspolitisch steht Korea im Übergang von einer Wirtschaft, dominiert durch grosse Unternehmen (Chaebols), die seit dem Beginn des Wirtschaftswunders in den 1970er Jahren übernomme Fertigung und Technologie besser und günstiger verarbeitet hat als die internationale Konkurrenz, zu einer Wirtschaft, welche eigene Technologie (Chip, KI) entwickelt und produziert in notwendigerweise auch kleineren Einheiten.
Die ASEAN (Association of South East Asian Nations)
Was die ASEAN bei aller Verschiedenheit ihrer Mitglieder zusammenhält, ist die Überzeugung, das wahre Asien, die Seele des Grossraums zu repräsentieren, ebenso wie die Einsicht, dass sie nur gemeinsam gegen die Elephanten im Raum – USA, China, Indien – eine Chance haben, sich eigenständig weiter zu entwickeln. Auch hier ist der Balanceakt zwischen dem sicherheitspolitischen Pol der USA und der Notwendigkeit von Wirtschaftsbeziehungen zum grossen Nachbarn China offensichtlich. Die ASEAN wird weder eine asiatische EU werden – dafür ist sie zu divers in jeder Beziehung – noch wird sie sich einer asiatischen NATO anschliessen – was offene Feindschaft zu Beijing bedeuten würde. Sicherheitspolitisch stehen bilaterale Bande im Vordergrund, sei es mit den USA, mit Japan oder Australien und zum Ausgleich mitunter auch mit China, so Thailand.
Woran verschiedene ASEAN Staaten aber durchaus erfolgreich arbeiten, ist die Steigerung der Attraktivität als «nicht-chinesisches Asien», was Fertigung und globalen Export von ausländischen Firmen anbelangt (Indonesien, Vietnam, z. T. Malaysia und natürlich Singapur). Sie sind zudem relativ stabile Demokratien, mit der grossen Ausnahme Vietnam und auch zunehmend Thailand, womit eine gewisse Rechtssicherheit im ASEAN-Raum – jedenfalls mehr als in China – einhergeht. Zu den wichtigsten ASEAN-Mitgliedern, die wenig in europäischen Medien erscheinen, die folgenden Notizen.
Indonesien ist der Ankerstaat der ASEAN. Ein reibungsloser Regierungswechsel hat dieses Jahr stattgefunden, wobei auch die bisherige, relativ offene Wirtschaftspolitik weitergeführt werden wird. Dies gesagt, ist ein Sohn des bisherigen Präsidenten Widodo Vizepräsident des angejahrten neuen Präsidenten Subianto, einstmals erbitterter politischer Gegner von Widodo, geworden, was den Beginn einer neuen politischen Dynastie bedeuten könnte mit aller entsprechenden Kartellgefahr. Wirtschaftspolitisch schwankt Jakarta zwischen einer neuen, «grüneren» Ausrichtung – der neue indonesische Staatsfonds soll den Übergang zur nachhaltigen Wirtschaft finanzieren – und der traditionellen Rohstoffbasis, welche auf der Nutzung fossiler Energie beruht. Bau und Betrieb der neuen indonesischen Hauptstadt Nunsantara im Westen Borneos, die nicht nur Administrativzentrum, sondern auch der neben Jakarta zweite Wirtschaftsschwerpunkt Indonesiens werden soll, wird zeigen, wie ernst die indonesische Absicht zu nehmen ist, «grünes» Zentrum Asiens zu werden.
Vietnam wird weiterhin von der KP regiert und beherrscht, die aber im Gegensatz zu China der Privatinitiative bislang relativ freien Raum gewährt hat. Nun sind in weniger als zwei Jahren zwei Staatspräsidenten – zweithöchstes Amt im Staat nach dem KP-Generalsekretär – zurückgetreten nach Verurteilungen wegen Korruption von unmittelbar Untergebenen. Eine der reichsten Personen Vietnams, die Unternehmerin Truong My Lan, wurde wegen Korruption und Betrug zum Tode verurteilt. Die Frage, die sich nicht zuletzt ausländische Anleger stellen, ist offen, ob dies wirkliche Bekämpfung der tatsächlich grassierenden Korruption oder nach chinesischem Muster interne Machtkämpfe innerhalb der Elite bedeutet.
Thailand ist parallel zum Wirken der regierenden Militärs, welche sich jeweils für Wahlen in Zivilkleidung werfen und eine politische Partei gründen, zum wirtschaftlichen «basket case» der ehemaligen asiatischen Tiger geworden: Abnahme des GDP seit 10 Jahren und Zunahme der Ungleichheitsrate zu Lasten der Landbevölkerung. Der relativ junge König, im Gegensatz zu seinem von den meisten Thais verehrten Vater, ist noch unpopulärer geworden, nachdem er sich Staatsbesitz – formal der Krone zugeordnet – in sein persönliches Vermögen einverleibt hat. Militärs und König halten im Moment an der Regierungsgewalt fest; sowohl ein Umsturz mit der Jugend als Speerspitze als auch eine Rückkehr an die Macht der Familie Sinawatra – Vater und Tochter waren schon Premierminister – im Komplott mit den Militärs erscheinen möglich.
Was mit Blick auf Malaysia speziell auffällt, ist die zunehmende Islamisierung des Landes. Im Gegensatz zu Indonesien, ein mit Ausnahme der hinduistischen Insel Bali in sich selbst ruhendes islamisches Staatswesen, das sich um einen modernen, moderaten Islam bemüht, folgen die malayischen Muslime einem wahhabistisch geprägten, konservativen Islam. Dies verschärft die religiöse Kluft im Land angesichts der grossen chinesischstämmigen und der kleineren, aber aktiven indischen Minderheit.
Im Gegensatz dazu hat Singapur dank rigorosem Staatseingriff religiöse Spannungen in seiner multiethnischen Bevölkerung traditionell im Keim erstickt, was angesichts der geringen Grösse des Stadtstaates auch eher möglich war. Zum Schluss eine interessante Parallele zu diesem «Switzerland of Asia», das seinen Einwohnern einen Lebensstandard nahe dem schweizerischen bietet: Die Staatsverschuldung von Singapur ist mit 170% GDP mehr als viermal grösser als jene der Schweiz, eine Schuldenbremse nach helvetischem Muster existiert nicht.
Der Pazifik
Von Europa aus sind Australien und Neuseeland, geschweige denn die Pazifischen Inseln «weit weg», exotisch und primär als Feriendestination bekannt und damit politisch wenig präsent in unseren Medien. Das robuste Selbstverständnis der Ozzies (Australier) insbesondere sieht das ganz anders. Sie stellen zu Recht fest, dass ihr Kontinent einen guten Teil des westlichen Randes von Asien abdeckt und zumindest geographisch mit Indien den Zugang zum Indischen Ozean dominiert. Eine strategische Stellung also inmitten der Jahrhundert-Schwerpunkt-Region Indopazifik.
Australien macht sich als weiterhin westlich geprägtes Land grosse Sorgen angesichts des chinesischen, totalitären Ausgriffs auf die Region. Canberra bemüht sich seit einiger Zeit, zusammen mit anderen asiatischen Demokratien eine institutionelle Antwort auf Pekings Aggression zu finden. Der erste Pfeiler des entsprechenden Zusammenschlusses AUKUS (Australia, UK, US) besteht in der Übereinkunft, mit amerikanischer Technologie und britischer Fertigung von nuklear betriebenen, aber konventionell bewaffneten U-Booten in Australien die neue Ost(China)-West(USA) Frontlinie im pazifischen Ozean zu verstärken.
Wirtschaftlich versucht Australien, seine riesigen Reserven an Bodenschätzen und Landmasse vermehrt auch intern zu nutzen, um vom bisherigen Modell des Rohmaterialien-Exports wegzukommen.
Neuseeland ist primär Agrarexporteur und war damit wegen seiner Wirtschaftsinteressen gegenüber China lange eher sanft aufgetreten. Unter einer neuen konservativen Regierung scheint sich das langsam zu ändern, womit sich die Kiwis (Neuseeländer) auch sicherheitspolitisch wieder dem traditionellen grossen Bruder Australien annähern.
Mit Ausnahme der Grossinsel New Guinea – deren Westteil gehört zu Indonesien, die unabhängige Republik Papua-Neuguinea umfasst die östliche Hälfte – verfügen die pazifischen Inseln wohl über kleine Landmassen ihrer oft Hunderten von Einzelinseln, aber über enorme Hoheitsgebiete im Pazifik, womit sie im Fokus des Interesses an Unterwasser-Schürfrechten stehen. Geopolitisch findet ein Tauziehen zwischen China einerseits und den USA/Australien andererseits statt, um an der erwähnten Ost-West-Frontlinie im Pazifik über Stützpunkte verfügen zu können.
In den internationalen Medien tauchen die pazifischen Inseln in jüngster Zeit primär als Opfer des Klimawandels auf, indem Korallenatolle vom Meer verschluckt werden, oder auch, wenn ein französischer Staatspräsident seine zwei Territorien dort, Tahiti und Neu-Kaledonien, besucht. Ein Überbleibsel aus der Zeit der grossen Entdeckungen und Kolonien, das wohl bald einmal verschwinden wird.