Kurz vor Weihnachten kam die Nachricht, der Boeing-Konzernchef habe zurücktreten müssen. Seit dem Absturz einer 737 Max 8 der indonesischen Lion Air mit 189 Toten im Oktober 2018 spielt sich eine Grosskatastrophe in Zeitlupe ab. Ein halbes Jahr nach Lion Air traf es die Ethiopian Airlines, als eine ihrer fast fabrikneuen 737 Max 8 kurz nach dem Start in Addis Abeba abstürzte: 157 Tote. Was in der Folge portionenweise an die Öffentlichkeit drang, ist ein Drama systemischer Verantwortungslosigkeit.
Die 737-Serie fliegt seit 1967. Sie ist das weltweit am meisten eingesetzte Passagierflugzeug und wurde von Boeing immer wieder aufgepeppt. Jetzt aber ist ihr Lebenszyklus am Ende. Seit längerem kaufen Fluggesellschaften bevorzugt sparsamere und leisere Maschinen. Die 2016 auf den Markt gekommene Airbus A 320neo befriedigt diese Kundenwünsche und setzt den amerikanischen Erzkonkurrenten unter Druck. In dieser Lage verzichtete Boeing auf die eigentlich geplante grundlegende Neukonstruktion eines Ersatzes für den Veteranen 737 und warf stattdessen ein weiteres Update auf den Markt, die 737 Max.
Damit die 737 Max den neuen Anforderungen genügen kann, hat sie einen neuen Typus von Triebwerken bekommen. Aus konstruktiven Gründen mussten diese so platziert werden, dass sie das Flugverhalten des Apparats ungünstig verändern. Dieser Nachteil wiederum sollte mit der eilig programmierten Software MCAS (Maneuvering Characteristics Augmentation System) korrigiert werden. Und dieses MCAS wiederum wurde in der Anleitung für Piloten nicht erwähnt, weil Boeing sonst teure Umschulungen hätte durchführen müssen.
Diese Kette unverantwortlicher unternehmerischer Entscheidungen hat nicht nur 346 Tote gefordert. Sie bringt auch einen der grössten Konzerne der USA an den Rand des Ruins. Zumindest beschädigt sie dessen Ruf auf Jahrzehnte und bringt ausserdem die mitverantwortliche US-Luftfahrtbehörde FAA in die Bredouille.
Und wie reagieren die Verantwortlichen? Sie vertuschen, so lange es geht. Sie versuchen mit Aktienrückkäufen und überrissenen Devisenausschüttungen die Aktionäre bei der Stange zu halten. Erst mit langer Verzögerung hat der CEO den Hut nehmen müssen. Ersetzt wird er durch den genauso involvierten Verwaltungsratspräsidenten. Und der Boss der FAA, der wichtige Teile der Zulassungsprüfung für die 737 Max an den Hersteller ausgelagert hat, rechtfertigt sich dafür mit Kosten- und Zeiteinsparungen.
Das vorrangige Drücken der Kosten sowie die alleinige Ausrichtung auf kurzfristige Gewinnmaximierung haben einen hohen Preis. Fast vierhundert Flugzeuge bei rund siebzig Airlines sind seit März gegroundet, weitere über vierhundert fabrikneue Maschinen stehen bei Boeing auf Halde, Bestellungen werden in grossem Umfang storniert, neue Orders bleiben aus, das wichtigste Produkt von Boeing ist praktisch tot, es drohen Schadenersatzforderungen in gigantischer Höhe, der Ruf des Herstellers ist genauso gründlich zerstört wie derjenige der FAA. Wahrhaftig ein schmerzhaftes Lehrstück. Doch ob daraus auch gelernt wird?