Opern ohne Drama taugen nichts. Aber auch ohne darin eingebaute lyrisch-poetische Phantasie sind sie unbrauchbar.
Ob zur ernsten oder zur komischen Gattung der Oper gehörig: Ohne eine literarische Vorlage, die eine spannende Geschichte bietet, und Momente, die die Entfaltung tiefer Gefühle und Empfindungen erlauben, wird aus keinem Libretto ein die eigene Zeit überlebendes musikalisch-dramatisches Ereignis. Darum sind gute Librettos für Komponisten und Komponistinnen schon «die halbe Miete».
Zwar kennt die Operngeschichte, zumal im komischen Fach, auch Werke, in denen herausragend gute Musik sogar sehr bescheidene, ja ärmliche Texte zu retten vermag. Aber wirkliche Sternstunden der Opernwelt ereignen sich, wo Textvorlage und musikalische Inspiration sich die Waage halten. Als Höhepunkte solcher Begegnungen dürfen gelten: Mozart und Da Ponte, Verdi und Boito-Shakespeare, Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal.
Als den Sprachmeister der Opernkunst des 18. Jahrhunderts bezeichnet man Pietro Metastasio (1698–1782), der eigentlich Pietro Antonio Domenico Bonaventura Trapassi hiess, aber unter seinem Pseudonym epochale Bedeutung und Beliebtheit erhielt. Man soll ja mit Namen keine Witze machen, aber hier kann man es sich kaum versagen zu bemerken, dass seine Texte unter den Komponisten des 18. Jahrhunderts sich wie eine wahre «Metastase» verbreiteten, wobei das griechische «metástasis» im nicht medizinischem Bereich etymologisch nichts anderes als «umsetzen, umwandeln, verändern» bedeutet. So ist Metastasio also der Mann, dem es gelingt, vor allem Stoffe der antiken Tragödie oder historische Heldengeschichten vergangener Zeiten als Vorlage für die neue Gattung des Musiktheaters «anzuverwandeln».
Barocke Verwandlungskunst
Metastasio hat freilich neben seinen Libretti für Opern und Oratorien auch Texte für Kantaten und geistliche Werke verfasst. Heute gibt es zahlreiche mehrbändige Ausgaben seiner reichen poetischen Erzeugnisse. Wie wir wissen, hat ihn auch Mozart noch in seinen letzten Lebensjahren, allerdings in stark veränderten Abwandlungen, vertont, zum Beispiel in seiner zweitletzten Oper «La clemenza di Tito». Nach grossen Erfolgen in Italien – in Rom, Neapel, Mailand und Venedig – hat Metastasio zwischen 1830 und seinem Tod als kaiserlicher Poet («poeta Cesareo») in Wien gewirkt, wo er auch begraben ist und wo man in der Minoritenkirche heute noch sein Grabdenkmal bestaunen kann.
Zu den grössten Libretto-Erfolgen Metastasios gehört die 1730 in Rom im Teatro delle Dame uraufgeführte Oper «Artaserse» von Leonardo Vinci (1696–1730), einem der damals herausragenden Exponenten der sogenannten Neapolitanischen Schule. Man kann es kaum glauben, doch dieses Libretto erlebte zwischen 1730 und 1840 über 90 verschiedene Vertonungen. Zu den heute noch bekannten Komponisten seines Librettos gehörten neben Leonardo Vinci: Johann Adolph Hasse, Carl Heinrich Graun, Baldassare Galuppi, Christoph Willibald Gluck, Niccolo Jomelli, Giovanni Paisiello, Domenico Cimarosa und sogar J. S. Bachs jüngster Sohn Johann Christian.
Ein Hochfest für Kastratenstimmen
Die Päpste hatten damals den Auftritt von Frauen auf Theaterbühnen im Kirchenstaat untersagt. Bei der Uraufführung in Rom wurden deshalb alle Männerrollen (mit Ausnahme der Tenorrolle des Artabano) und beide Frauenrollen von Kastraten gesungen. Obwohl der Glanz von Leonardo Vinci im 19. und 20. Jahrhundert stark verblasste und seine Musik praktisch von den Theaterbühnen verschwand, brachte die Neuentdeckung der Barockmusik nach dem 2. Weltkrieg so etwas wie eine neue Singkultur von Countertenören mit sich, die an Virtuosität und Klangschönheit den Stimmen der damaligen Kastraten in nichts nachsteht.
«Artaserse» gilt heute als das Meisterstück unter Vincis Opern. Es war das letzte seiner insgesamt über 30 Bühnenwerke und kam nur drei Monate vor seinem frühen Tod zur Uraufführung. Im Jahr 2012 entstand eine Produktion als CD- und DVD-Einspielung, die uns heute erlaubt, mit Ohren und Augen in die magische Klang- und Bilderwelt dieser reif gewordenen Barockzeit einzudringen. Diego Fasolis und das Orchester Concerto Köln sammelten fünf der heute weltbesten «countertenors» und eine strahlend unverbrauchte Tenorstimme um sich, um uns die Barockzeit so erleben zu lassen, wie diese Oper um 1730 im festlichen Rom zur Karnevalszeit zu sehen und zu hören gewesen sein könnte. Allerdings von Spielern und Sängern dargeboten in heute zu erwartender Präzision und Perfektion.
Verwirrungen um Liebe und Macht
Die Geschichte dieses Artaserses wollen wir hier weder historisch noch aus Sicht operistisch-imaginärer Bearbeitung aufrollen und erzählen. Dafür bräuchte es eine Buchlänge. Nur soviel: Wir sind in Persien in der Zeit, als die Perser gegen die Griechen Krieg führten (das heisst im 5. Jahrhundert v. Chr.). Als das Perserreich an Macht einzubüssen beginnt, setzen mit dem Tod von Xerxes die Intrigen unter Machtbesessenen an, welche die Königsfamilie beerben und sich selbst auf den Thron hieven wollen. Artabano, der Leibgardenchef, tötet nicht nur Xerxes, sondern will auch dessen Söhne aus dem Weg schaffen. So auch Artaseres, um dessen Errettung aus den kriminellen Machenschaften seines obersten Militär- und Sicherheitschefs es in der Oper geht.
Wir hören hier eine Szene aus dem Beginn des 3. Aktes, die zwei der wichtigen Figuren des Dramas zusammenführt: Arbace, Sohn des Mörders Artabano, und König Artaserse, der mit ihm befreundet ist und ihn im Gefängnis besucht und befreien will. Inzwischen gehen die Intrigen seines Vaters Artabano soweit, dass man seinen eigenen Sohn für den ruchlosen Schuldigen im Machtkampf hält. Artasarse glaubt aber an die Unschuld seines Freundes Arbace und möchte ihm die Flucht aus dem Gefängnis ermöglichen.
Der eingekerkerte Arbace fragt sich im Anfangs-Arioso: Warum lässt der Tod für die Leidenden so lange auf sich warten? Nur für die Glücklichen kommt er ja zu schnell! Im folgenden Rezitativ sagt ihm der jetzt erscheinende Artaserses, er sei hier aus Mitleid und aus Freundschaft, er wolle ihm zur Flucht verhelfen, auch wenn sein geliebter Freund dann fern von ihm leben müsse. Arbace fragt sich, wie er seinem König und Freund für diese Wohltat je Dankbarkeit erweisen könne.
Metastasios und Vincis Kunst
In den nun folgenden zwei Arien erleben wir etwas vom wirklich Grossartigen, was barocke Singkunst uns zu bieten vermag. Arbace besingt zunächst seinen eigenen Zustand als «L'onda dal mar divisa – die Welle, vom Meer getrennt», die Berg und Tal durchwandert, die Gefangene einer Quelle wird, in der sie murrt und stöhnt, bis sie endlich zurückfindet ins Meer. Dort erst hofft sie, nach langem Irren, einmal Ruhe zu finden. So verabschiedet sich Arbace von seinem Freund Artaserse.
Dieser ist überzeugt, dass sein Freund unschuldig ist, denn das Äussere eines Menschen könne sein Inneres nicht ganz verbergen. Das eigene Herz offenbare sich im Gesicht! In der Arie singt er: Ein Wölkchen, das an der Sonne vorbeizieht, verschleiert oft ihr Licht, kann deren Glanz jedoch nie ganz verbergen. So wie das reine Wasser vergeblich versuche, den Grund eines Flusses mit einem welligen Schleier zu verdecken, denn dieses Wasser werde in seiner Klarheit immer wieder einen «fondo algoso – einen algigen Boden» offenbaren.
Ein Denker und begnadet reimender Poet war er gewiss, dieser Metastasio. Und Vinci wiederum war der Verwandler gelungener Poesie in bezaubernde Musik. Für barocke Männersingkunst im hohen Stimmenbereich ist diese Szene mit den beiden Figuren ein Dokument, wofür man heute schwerlich ein zweites, vergleichbar überzeugendes, finden mag. Arbano wird in dieser Aufnahme von Franco Fagioli gesungen, Artaserse von Philippe Jaroussky.