Eine Wanderung auf den Pfannenstiel gibt Anlass, über die Zeit und unterschiedliche Zeiträume nachzudenken, welche das Universum und unser Leben bestimmen.
«Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust», lässt Goethe seinen Faust sagen. Wer hätte dies nicht auch schon ausrufen wollen und ein bisschen Faust in sich gespürt? – Zum Beispiel die Sehnsucht nach dem Unbekannten, nach der weiten Welt, und gleichzeitig das Heimweh nach dem Vertrauten, nach den lieb gewordenen Orten, welche wir, zurück von der «Weltreise», immer wieder aufsuchen. Im Gegensatz zu den vorüberziehenden Landschaften und Städten unserer eigenen Weltentdeckung geben die vertrauten Orte unserem Leben Kontinuität und inneren Zusammenhalt. Doch sie stillen nicht nur unser Heimweh, sondern lassen uns auch den Gang der Zeit spüren.
Vertraute Orte besuchen heisst immer auch das eigene Leben vermessen, die vergangene Zeit abzuschreiten, jene Zeit, welche die Naturwissenschaften als Koordinatenachse definieren, gegenüber der sie Prozesse messen. Die Zeit ist unbestechlich und lässt sich nicht anhalten, auch von den skrupellosesten Potentaten unserer Erde nicht. Die Zeit: unbeeinflussbar, aber auch unerbittlich …
Als ich kürzlich durch das Küsnachter Tobel zum Pfannenstiel wanderte, schliesslich oberhalb des Aussichtsturms aus dem Wald trat, kam mir – wie immer an dieser Stelle – Albin Zollingers Roman «Pfannenstiel» in den Sinn, in welchem der Protagonist Martin seiner Freundin Marie diese Stelle als das «letzte Tor» (1) bezeichnet, als das Tor, das nach langer Wanderung durch den Wald plötzlich den Blick in die Ferne öffnet, ins obere Glatttal, das eingerahmt wird von den Hügeln und Bergen des Oberlandes, zum Säntis, Speer, Mürtschenstock und Vrenelisgärtli, hinter denen – das wollte Zollinger mit seinem «letzten Tor» wohl sagen – sich die Weite der Erde ausbreitet.
Die Erde, unser Planet: Wir sehen sie gerne als eine gegebene und konstante Grösse unseres Lebens. – Das ist sie auch, zumindest gemessen an unserer individuellen Lebensspanne. Doch für die Naturwissenschaften hat die menschliche Zeitskala keine Sonderstellung; sie liegt irgendwo beim oberen Drittel zwischen dem unvorstellbar Kurzen, welches den Ablauf von Prozessen zwischen Elementarteilchen, Atomen und Molekülen charakterisiert, und dem unvorstellbar Langen, in dem Galaxien, Sterne und Planeten entstehen und wieder verschwinden, Planeten wie die Erde, welche 4,5 Milliarden Jahre alt ist, alt genug, dass sich im Laufe der Evolution organische Moleküle, Einzeller, Pflanzen und Tiere bilden konnten und schliesslich – vor rund 300’000 Jahren erst – der Homo sapiens, der sich an der Spitze der «Schöpfung» wähnt. Zwischen der längsten Zeit, der Zeit des Urknalls, und der kürzesten liegen mehr als dreissig Zehnerpotenzen, d. h. das Verhältnis dieser Zeiten wäre grösser als eine Eins mit dreissig Nullen!
Kann man sich das überhaupt vorstellen? – Aufschreiben kann man eine solche Zahl sehr wohl, aber ich glaube nicht, dass ein Mensch diese Grössenverhältnisse wirklich erfassen kann. Um unsere Lebenszeit zu begreifen, benötigen wir andere Vergleiche. Zum Beispiel diesen: Wie lange kommt der Mensch schon auf den Pfannenstiel und schaut in die Ferne? Und wie vergleicht sich dieser Zeitraum mit der Zeit, seit ich selber erstmals durch das «letzte Tor» geschaut habe.
Ein internationales Forscherteam hat die letzte Eiszeit (man nennt sie die Würm-Kaltzeit), welche vor 115’000 Jahren begann und vor ca. 10’000 Jahren endete, mittels einer Computersimulation nachzubilden versucht. Ich habe mir die Dynamik der vorstossenden und sich wieder zurückziehenden Gletscher in einem zweiminütigen Film angeschaut und dabei vor allem über zwei Dinge gestaunt:
Erstens ist die Vergletscherung während der mehr als 100’000 Jahre dauernden Kaltzeit alles andere als konstant. Immer wieder ziehen sich die Gletscher fast vollständig in die Alpen zurück. Zweitens fand der grösste Gletschervorstoss nicht etwa in der Mitte der Kaltzeit statt, sondern erst gegen deren Ende, nämlich vor 25’000 Jahren. Damals stiess der Linthgletscher weit über Zürich hinaus und bedeckte den heutigen Pfannenstiel vollständig. Aus dieser Zeit stammt u. a. der rote Ackerstein auf der Okenhöhe in der Nähe des Restaurants Hochwacht, welchen der Gletscher dort liegen gelassen hat.
Wann kamen die ersten Menschen auf die Hochwacht? – Natürlich werden die damaligen Jäger und Sammler den Hügelzug, welcher heute Pfannenstiel heisst, schon vor dem maximalen Gletschervorstoss besucht haben, aber damals muss die Topografie sehr anders ausgesehen haben, ein felsiger Hügel mit spärlicher Vegetation, von Wald nicht zu reden. Seit mindestens 15’0000 Jahren war der Hügelzug ob dem Zürichsee eisfrei, aber bis sich das Klima soweit erwärmt hatte, dass sich Wald bilden konnte, brauchte es noch viele Jahrhunderte.
Ich stelle mir also – vereinfacht – meinen Vorfahren vor rund 10’000 Jahren vor, wie er am «letzten Tor» aus dem Wald tritt und nach Wild oder Feinden Ausschau hält oder einfach, wie ich es oft getan habe, hier sitzt und schaut. Von diesen 10’000 «Pfannenstiel-Jahren» habe ich persönlich ungefähr die letzten 80 Jahre selber auf dieser Welt erlebt, also den 125sten Teil. – Ist das jetzt viel oder wenig, was mich von den ersten Pfannenstiel-Besuchern trennt?
Es ist wenig, wenn wir diese 10’000 Jahre mit der Zeit seit dem ersten Auftreten des Homo sapiens vor mehr als 300’000 Jahren vergleichen, und es ist wirklich winzig – ein Nichts –, wenn wir als Vergleich das Alter der Erde (rund 4,5 Milliarden Jahre) beiziehen. Aber es ist viel, wenn wir in menschlichen Zeitskalen denken: 125 mal hätte mein bisheriges Leben in diesen 10’000 Jahren Platz, und die typische Lebenssdauer eines damaligen Jägers wohl mindestens dreimal mehr.
Und überhaupt: Was ist dem Menschen lang, was kurz? Hat unser persönliches Zeitgefühl überhaupt nur das Geringste zu tun mit der Unbestechlichkeit der Zeit der Physik?
Während ich zum Vrenelisgärtli schaue, höre ich plötzlich die besorgte Sopranstimme der Marschallin im Rosenkavalier, wie sie ihren jungen Liebhaber Octavian – und sich selber – zu beschwören versucht: «Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding. Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie …»
Wieder zuhause suche ich in meiner digitalen Fotosammlung nach Bildern, welche ich im Laufe der Zeit vom «letzten Tor» aus aufgenommen habe. Sie reichen gerade zehn Jahre zurück, denn in der Vor-Handy-Zeit hatte ich den Fotoapparat nur für besondere Ausflüge dabei, kaum für einen Abendspaziergang auf der Hochwacht. Doch viel hat sich hier während der letzten Jahrzehnte ohnehin nicht verändert. Mein Blick bleibt an einer Aufnahme vom 21. März 2014 hängen. Wie auf einem Barockbild schiessen die Sonnenstrahlen hinter einer grauen Wolke hervor und lassen den Obersee hell aufleuchten. So müssen Menschen seit Urzeit in den Himmel gestaunt und sich ihren Glauben zurechtgelegt haben.
Und beim Wort «Zeit» höre ich wieder die Marschalin, wie sie erzählt, dass sie manchmal mitten in der Nacht aufstehe und alle Uhren anhalte. Doch ganz so sicher ist sie sich offenbar über die Wirkung ihrer Tat auf die Zeit doch nicht. So spendet sie sich und ihrem Geliebten Trost: «Allein man muss sich auch von ihr nicht fürchten. Auch sie ist ein Geschöpf des Vaters, der uns alle geschaffen hat.»
Wer auch immer die Zeit geschaffen haben mag, auch für den Physiker bleibt sie letztlich ein grosses Geheimnis.
(1) Für diejenigen, welche es genau wissen möchten:
Swiss Top LV95 Position 2’693’370, 1’238’610, 832 m ü. M.