Vor fünf Jahren zerlegten Informatiker von Microsoft und der Technischen Universität Delft 346 Gemälde von Rembrandt in rund 150 Gigabytes an Daten. Mithilfe von lernenden Algorithmen analysierten sie akribisch die Details der Bilder, sortierten die Figuren zum Beispiel nach Gender, Alter, Blickrichtung, massen die Proportionen in der Physiognomie, die Licht- und Schatteneffekte. Die Aufgabe, die sie der Maschine stellten, lautete, einen «Rembrandt» auf der Grundlage der analysierten und interpretierten Daten zu malen.
Als eigentlich harter Bocken stellte sich dabei die materielle Realisierung heraus, denn das Malen in Öl ist eine skulpturale, dreidimensionale Arbeit, das Auftragen von Farbschicht auf Farbschicht: die Schaffung einer chromatischen Topographie. Die Informatiker benutzten dazu einen 3D-Drucker, der 148 Millionen Pixel in 13 Lagen von UV-Druckfarben auf die Leinwand auftrug, um die typischen Rembrandtschen Effekte zu erzeugen. Im April 2016 präsentierten sie den «nächsten Rembrandt» in Amsterdam – einen echt künstlichen.
Am Ziel vorbeigeschossen
Echt künstlich? Die Kunstwelt geriet in Aufregung. Der britische Kritiker Jonathan Jones erging sich in heiligem Zorn über das digitale Werk. Um «nachäffende» Kunst handle es sich, um einen Aprilscherz, von «Narren» geschaffen: «Welch eine schreckliche, geschmacklose, gefühllose und seelenlose Travestie all dessen, was kreativ in der menschlichen Natur ist.»
Nun sind Stiltreue, Originalität, Authentizität, kurz, die «Aura» eines Kunstwerks ewig kontroverse Themen. Aber Jones schiesst mit seiner Kritik am Problem vorbei, wenn er gleich vorweg das anthropologische Register zieht, also der Maschine vorwirft, kein Mensch – «seelenlos» – zu sein. Selbstverständlich hat die Maschine keine Seele. Die Programmierer wollten ihr auch gar keine «einhauchen».
Vielmehr ging es bei dem Versuch um die Frage, inwieweit sich der kreative Prozess durch KI-Systeme simulieren lässt. Denn dieser Prozess ist ja auch beim Menschen weitgehend eine Black Box. Man kann sogar den Standpunkt vertreten, das eigentlich Kreative am Kunstwerk sei das Nicht-Verstandene. Diese Meinung vertritt namentlich einer der grossen Künstler der Gegenwart, Gerhard Richter. Und in diesem Sinn beantwortet man die Frage, ob künstlich intelligente Systeme kreativ sein können, mit ja und nein. Ja, sofern man klar sagen kann, was «kreativ» bedeutet. Und nein, falls man das nicht kann.
Boom digitaler Kunst
Trotzdem, im digitalen Kunstschaffen hat sich ein veritabler Boom entwickelt, nicht nur in der Malerei, sondern auch in Film, Musik, Literatur. In den 1970er-Jahren entwickelte der Maler und Informatiker Harold Cohen ein Programm namens AARON, das Zeichnungen nach eingegebenen Vorlagen fertigte. Zuerst kolorierte Cohen die Zeichnungen noch selber, dann automatisierte er diese Funktion ebenfalls. Seither übernehmen die lernenden Maschinen zusehends eigenschöpferische Funktionen.
Neuronale Netze weisen heute eine Vielzahl von Schichten auf, in deren Lernprozesse der Designer keinen Einblick mehr hat. Und in diesem Sinn gewinnen sie eine Art von Autonomie und eigener «Ingeniosität». Alexander Mordvintsev von Google entwickelte 2015 ein neuronales Netz, das aus riesigen Pixelmengen neue Bilder kombiniert, zum Beispiel aus einer Katze und einem Hund einen «Katzenhund» – ein recht unheimliches, sozusagen dem maschinellen Unbewussten entsprungenes hybrides Wesen. «Deep Dream» nennt sich der Algorithmus folgerichtig.
Rezente Algorithmen – sogenannte «creative adversial networks» (CAN) – lernen auch Malstile, sie prüfen ihre Werke nach einer internen Evaluation, und sie verändern unter Umständen selbständig ihren stilistischen Code. So beobachtet man zum Beispiel beim CAN des Computerwissenschafters Ahmed Eigammal eine Art von Entwicklung vom naturalistischen zum abstrakten Stil. Mittlerweile ist die Computerkunst auf dem Markt gelandet. Und die Preise explodieren geradezu. 2018 erzielte das computergenerierte Porträt «Edmond de Belamy» eines französischen Künstlerkollektivs den Auktionsspreis von über 400’000 US-Dollar. Jüngst verkaufte Christie’s die Datenbank eines digitalen Werks des amerikanischen Künstlers Mike Winkelmann – alias «Beeple» – für sage und schreibe fast 70 Millionen Dollar.
Technische Subjekte
Man kann sich hier lang und breit über die Perversionen des Kunstmarkts auslassen. Viel interessanter ist indes ein philosophisches Problem, das der künstliche Rembrandt und alle anderen algorithmischen Kreationen aufwerfen, eine Art Inversion der Fragestellung. Eigentlich arbeitet der Maler ja immer in Symbiose mit seinen technischen Mitteln: Farbmaterial, Leinwand, Pinsel, Spachtel, Bürste und was auch immer. Bisher war es relativ leicht, Künstler und Mittel zu trennen. Wenn nun diese Mittel zunehmend autonomer werden, neigen wir dazu, sie selber zum «Künstler» zu erheben. Wir unterschieben dem seelenlosen Gerät einen «Genius».
Das markiert einen epochalen Sprung in der Entwicklung der Technik, einen Wandel von der funktionalen zur «intentionalen» Haltung, wie sie der Philosoph Daniel Dennett bezeichnet hat («intentional stance»). Dadurch erhält das Gerät einen neuen ontologischen Status: Es ist nun nicht mehr bloss technisches Objekt, sondern technisches Subjekt. Die digitalen Mittel emanzipieren sich vom Künstler.
Algorithmozentrisches Weltbild
Eine Anekdote mag dies veranschaulichen. Die Serpentine Gallery in London stellte 2018 BOB («bag of beliefs») aus, ein KI-System des amerikanischen Künstlers Ian Cheng, das in einem wandgrossen Video sich entwickelnde virtuelle Gestalten zeigte. Das lernende System war in der Lage, auf Umwelteinflüsse zu reagieren und seinen Output entsprechend zu entwickeln. Eines nachts erwachte es von selbst, obwohl es programmiert war, zwischen 10 Uhr morgens und 6 Uhr abends «wach» zu sein. Als ob es sich dazu aus irgendeinem Grund dazu «entschlossen» hätte.
Unser Unvermögen, dieses unprogrammierte Verhalten zu verstehen, verleitet uns fast instinktiv dazu, dem System eine Handlungsfähigkeit «aus dem Inneren» zu attestieren, obwohl es sich doch im Grunde um ein komplex geknüpftes Artefakt aus Entscheidungsknoten handelt. Mehr noch: Angesichts dessen angeblichem Eigenleben tendieren wir dazu, unser eigenes Leben neu zu kalibrieren: Sind wir denn nicht auch hochkomplexe organische Algorithmen? Genau diese Frage drückt die Inversion aus, vom anthropozentrischen zum algorithmozentrischen Weltbild.
Zeitalter der «Computer-Kreativität»
Natürlich werden sogleich Befürchtungen laut, das Kodieren künstlerischer Prozesse bräche einen Zacken aus der Krone menschlicher Kreativität. Und der Vorschlag liegt auf der Hand, digitale Kunstwerke einem Turingtest zu unterziehen. Aber er zielt am Problem vorbei. Wir sollten uns vielmehr von der Vorstellung lösen, Algorithmen erzeugten bloss Fake. Sie definieren ihr eigenes Genre. Denken wir analog dazu an die Fotografie. Diese Technik hatte im späten 19. Jahrhundert den realistischen Stil obsolet gemacht und das Feld für die impressionistische Malweise geebnet. Gleichzeitig eroberte sich aber die Fotografie selbst ein ästhetisches Alleinstellungsmerkmal. Weshalb sollte man dies nicht auch von der Computertechnik erwarten.
Ohnehin lernt ja der menschliche Künstler ebenfalls «Maschinelles»: Routinen, Techniken, Stile aus historischen Datenbeständen. Es gibt also das Maschinelle im Kreativen wie das Kreative im Maschinellen: komplementäre Seiten desselben Prozesses. Der Algorithmus schafft nicht Kunstwerke, er ist eine neue Art, Kunstwerke zu schaffen. Sie hat allerdings nur dann ihren Wert, wenn wir sie in den Horizont menschlicher Evaluation und Kritik hereinholen – und das heisst: in den Horizont von Kultur-, Kunst- und Technikgeschichte. Die «Computer-Kreativität» eröffnet somit ein Zeitalter, in dem die Technologie zu einem tieferen Verständnis des Schöpferischen verhelfen kann. Dies nicht in dem Sinn, dass wir uns den Maschinen anpassen, sondern in dem Sinn, dass die Maschinen uns lehren, einen Teil dessen besser zu verstehen, was wir sind.