Weder die unter gewissen Erwartungen ausgefallenen Verluste bei den eidgenössischen Wahlen noch der Zusammenschluss der «Mitteparteien» zur drittgrössten Fraktion vermögen darüber hinwegzutäuschen: die elektorale Talfahrt der CVP – sarkastische Beobachter möchten von «Höllenfahrt» und «Koalition der Verlierer» sprechen – geht weiter.
Deren Wählerschwund seit 1971 unterscheidet sich von jenem der FDP und SP durch zwei Merkmale: einerseits dem markant grösseren Umfang (minus 50% bei den Proporzwahlen des Nationalrats und der Kantonsparlamente) und andererseits der ausnahmslosen Stetigkeit des Abstiegs. Selbst im jahrzehntelang von ihr dominierten Ständerat hat sie in 50 Jahren einen Viertel ihrer Sitze verloren, worunter diesen Herbst den im fribourgischen Stammland seit 1860 ununterbrochen gehaltenen, im Tessin jenen ihres seit 20 Jahren in Bern sitzenden Fraktionschefs, während der zweite Sitz im «Heiligen Wallis» nur knapp nicht an die SP fiel.
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Widerspiegeln sich in dieser Erosion der einstigen Hauspartei der Schweizer Katholiken nur die umgekehrt angestiegenen Quoten der Kirchenaustritte? Zu beachten ist: schon 1950 wurde die «Schweizerische Konservative Volkspartei» (KVP) in «Konservativ-Christlichsoziale Volkspartei» (KCV), 1970 – die Auflösungsphase des für sie bis anhin prägenden katholischen Milieus bezeugend – in die heutige «Christlichdemokratische Volkspartei» umbenannt.
Was heisst und wer macht christliche Politik?
Diese recht frühe Abnabelung vom «Katholisch-Konservativen» muss die einfache Annahme einer umgekehrten Proportionalität zu den Kirchenaustritten sicher relativieren. Hier wird denn auch die These vertreten, dass der Partei nicht in erster Linie die Abkehr vom Konservativismus, sondern vielmehr die in den letzten Jahrzehnten innerhalb der Partei erfolgte Akzentverschiebung vom «christlich-sozialen» zu einem zunehmend «wirtschaftsfreundlich», mithin neoliberal geprägten Flügel geschadet hat.
Der von der katholischen Sozialethik geprägte Dreischritt von «Sehen – Urteilen – Handeln» propagiert, dass politisches Engagement nicht nur von der «Amtskirche» ausgehen, sondern in erster Linie seitens der «Kirche der Gläubigen» erfolgen soll. Für Letzteres braucht es freilich keine «C»-Partei, da Christen in jeder Partei wirken können und die berüchtigte Aussage des Zürcher Alt-Bischofs Henrici SJ, ein Christ könne nicht die SVP wählen, überspitzt ist.
Dennoch gibt es inhaltliche Schranken christlicher Politik, und zwar auch ausserhalb von Unrechtsregimes: z. B. dürfte kein Christ mehr für die Todesstrafe eintreten, aber auch nicht für die Aufrechterhaltung des inländischen Bankgeheimnisses, das Alt-NR Leutenegger-Oberholzer (SP/BL) zutreffend als schieres Steuerhinterziehergeheimnis gebrandmarkt hat (da es nur Daten schützt, die jeder Bürger den Steuerbehörden pflichtgemäss offenlegen müsste und mit der faktischen staatlichen Legitimierung milliardenhohen, alljährlichen Wiederholungsdiebstahls auch den Rechtsstaat fundamental in Frage stellt). Derweilen sass CVP-Präsident Pfister neben seiner FDP-Kollegin Gössi im Komitee der «Bankgeheimnis-Initiative» des Zürcher Bankers und SVP-Nationalrats Thomas Matter, und in der letzten Session vor den Wahlen obsiegte die CVP – um den «Mittelstand» zu entlasten – mit einem erhöhten Kinderabzug bei der Bundessteuer, von dem nur Familien mit Einkommen über Fr. 120’000 überhaupt und mit über Fr. 300’000 vollumgänglich profitieren.
Symptomatisch für ihre Krise ist, dass sich die Schweizer «C-Partei» nicht nur mit ihren Wahlergebnissen, sondern auch mit ihrer Anfangsinitiale schwertut und diese auch immer wieder nomenklatorisch in Frage stellt. Sicher kann das «C», zumal allzu plakativ vorgetragen, falsch bzw. als moralisierend verstanden werden, so dass gleichsam ein überholtes «K» gemeint wäre. Allerdings ist eine solche Wirkung gerade im postmodernen, zunehmend urban geprägten Umfeld nicht mehr zu befürchten.
Mut zu klarem Profil vonnöten
So äusserte der wieder in die Kirche eingetretene Adolf Muschg: «Ich war fast mein ganzes Erwachsenenleben lang draussen. Das war ein Bekenntnisakt. Und paradoxerweise ist es jetzt wieder einer. (...) Es geht mir nicht einmal um die reformierte Kirche, sondern um den Status der Religionen in der Gesellschaft überhaupt. Heute ist das eine Minderheitenposition geworden, und die Werte, die die Kirche transportiert, wenn sie dem Evangelium treu sein will, sind immer radikale, der Normalität entgegengesetzte, widernatürliche Werte gewesen wie die Feindesliebe. Dieses Gebot der Feindesliebe ist der Kern der evangelischen Botschaft. Die Kirche, in die ich wiedereingetreten bin, ist unbequem, aber auch gnädiger als jede ökonomische Bilanz.»
Eine sich pointiert bekennende «C»-Partei könnte in der heutigen Gesellschaft durchaus die Funktion des paulinischen «Stachels» wahrnehmen – mithin gerade das Gegenteil eines dogmatischen, gar gottesstaatlichen Wächterrats. Statt Angst zu haben, das «C» könnte von einem potentiellen Elektorat falsch verstanden werden, sollte sie es vielmehr als provokativen Brand ausspielen. Denn gerade im Tummelfeld der politischen Mitte scheint bei vielen Wählern die Undefinierbarkeit der Positionen abschreckend zu wirken. Wenn eine GLP auf Kosten von CVP und BDP gewinnt, dann wohl darum, weil sie sich klar thematisch bekennt.
So könnte es durchaus sein, dass einer ängstlichen cVP bzw. (C)VP mehr Ungemach droht als einer provokanter auftretenden CVP, die sich nach rechts von einem ihr traditionell fremden Neoliberalismus, nach links vom ideologiegetriebenen, realitätsfremden Utopismus jener abgrenzt, die – in expliziten und impliziten Parteiprogrammen – noch immer den Kapitalismus überwinden wollen. Es wird sich weisen, ob die vor einem Jahr als Interessengruppe innerhalb der CVP ins Leben gerufene Christlichsoziale Vereinigung (CSV) das Steuer herumreissen und ihrer Mutterpartei zu auffrischendem Fahrtwind in neue Richtungen verhelfen kann oder ob ein jetzt angestimmter Schwanengesang unweigerlich in jenen des Requiems übergeht.