Es gibt viele Bücher über den Gotthard. Jetzt liegt ein neues vor: es ist herausragend. Bestechend sind die 400 teils faszinierenden zeitgenössischen Illustrationen: Fotos, Zeichnungen, Plakate, Gemälde. Die Autoren haben lange, sehr lange in Archiven gewühlt, um diese Schätze zusammenzutragen.
Doch das von den Tessinern Adriano Cavadini, Sergio Michels und Fabrizio Viscontini realisierte Werk „Die Gotthardbahn“ ist nicht nur ein aussergewöhnliches Bilderbuch. Es vermittelt, angereichert mit vielen Anekdoten, einen historischen Überblick über die Geschichte der Saumpfade, der Eisenbahnlinien und die wirtschaftlichen Auswirkungen auf die Deutschschweiz, das Tessin und Norditalien. Die Autoren – mehrere Historiker haben mitgewirkt – schöpfen ihre Informationen aus Hunderten wertvoller, lokaler und regionaler Dokumente.
Schon zu Römer-Zeiten wird der Gotthardpass überquert: zu Fuss und mit Eseln. Zwar ist der Pass die kürzeste Nord-Süd-Verbindung. Doch wegen der unwegsamen Strecke wird er damals meist gemieden.
Die erste Beschreibung der Überquerung des Gotthardpasses stammt aus dem Jahr 1234. Verfasst wurde sie von Albert von Stade, einem Abt aus Bremen.
Vermutlich 1230 bauen die Walser in der engen Schöllenen-Schlucht die erste Brücke über die Reuss: die „stiebende Brücke“ und später die erste „Teufelsbrücke“.
Der erste Alpentunnel
1707 baut der Ingenieur Pietro Morettini aus Cerentino den ersten Alpentunnel: Das „Urnerloch“ ist 64 Meter lang. Der Tunnel ersetzt den hängenden, abenteuerlichen Holzsteg, der an der Felswand angebracht war. Jetzt erst ist der Weg durch die Schöllenen-Schlucht mit Wagen und Postkutschen befahrbar.
Mit Nauen wird die Ware über den Vierwaldstättersee nach Flüelen transportiert. Dann geht’s weiter auf dem Saumpfad über den Gotthardpass und hinunter bis nach Giornico. Im Winter werden Schlitten eingesetzt. Benutzt wird der Passweg vor allem von Händlern und Bauern, die mit der Lombardei und dem Piemont Geschäfte treiben.
Bereits 1830 werden 4’000 Tonnen Ware über den Gotthard transportiert. Täglich sind bis zu 800 Lasttiere im Einsatz.
Gotthard oder Lukmanier?
1845 beginnt man sich mit dem Gedanken zu befassen, einen Tunnel durch die Alpen zu bauen. Soll er durch den Gotthard oder den Lukmanier führen? Die Diskussionen verlaufen hitzig.
„Aufgrund der damaligen technischen Kenntnisse“, schreiben die Autoren, „hielt man es für unmöglich, die starken Höhenunterschiede im Leventinatal und im Reusstal mit einer Bahnlinie zu überwinden.“ Der Lukmanier wird lange Zeit als geeigneter betrachtet. Die österreichische Lombardei favorisiert die Gotthardlinie, das Königreich Sardinien die Lukmanier-Linie.
Auch tollkühne Pläne gibt es. Gottlieb Koller, der Leiter des eidgenössischen Eisenbahnbüros, arbeitet 1852 einen ambitiösen Plan aus. Dieser sieht einen 123 Kilometer langen Tunnel vor, der von Flüelen direkt bis zum Lago Maggiore führt. Schliesslich entscheidet man sich für einen 15 Kilometer langen Gotthard-Scheiteltunnel – damals der längste Tunnel der Welt. Wesentlich mitentscheidend war, dass sich das neue Königreich Italien mit seiner Hauptstadt Turin nun für den Gotthard entschied.
Auch Alfred Escher setzt sich für den Bau der Gotthardlinie ein. Er sagt:
„Von allen Seiten nähert sich die Eisenbahn immer mehr der Schweiz. Projekte entstehen, wonach die Bahnlinien einen Umweg um die Schweiz herum machen, so dass für unser Land die Gefahr besteht, dass es total umgangen wird und in Zukunft den traurigen Anblick einer europäischen Einsiedelei bieten muss.“
Erstes europäisches Gemeinschaftswerk
1872 wird mit dem Bau begonnen. Im Jahr zuvor war der deutsch-französische Krieg mit einem Sieg des deutschen Kaiserreichs zu Ende gegangen.
Der Gotthard-Tunnel ist das erste europäische Gemeinschaftswerk. Bezahlt und projektiert wird er von der Schweiz, dem deutschen Kaiserreich und dem italienischen Königreich. Preussen hat seine Hintergedanken. Deutschland und Italien sind alliiert. Bismarck will dank dem Tunnel die Italiener näher an sich binden und den französischen Einfluss zurückdrängen.
Verachtfachte Einwohnerzahl
Für den Bau der Röhre werden Tausende Mineure aufgeboten. Die meisten kommen aus Norditalien. Es sind vor allem verarmte Bauern und Arbeitslose. Für Airolo und Göschenen hat die Einwanderungswelle weitreichende Folgen. In Airolo leben jetzt fast doppelt so viele Menschen. Die Einwohnerzahl von Göschenen verachtfacht sich innert weniger Monate. Die Neuzuzügler finden Unterschlupf in Baracken, Ställen und auf Dachböden. Das Zusammenleben der Schweizer mit den Italienern verläuft nicht immer problemlos. Immer wieder kommt es zu Streit. An Weihnachten 1873 endet ein Streit mit dem Tod eines Bürgers von Airolo.
Am 18. September 1877 werden die Unterkünfte noch rarer als sie sonst schon sind: Ein Feuer zerstört einen Grossteil von Airolo. 2000 Menschen, unter ihnen 1000 Arbeiter, werden obdachlos.
Aus Göschenen wird Cascinotta
Die Preise für Lebensmittel steigen. Um acht Stunden lang im gleichen Bett schlafen zu können, zahlt ein Arbeiter fünf Rappen. Ein Bett in einem 10-Betten-Raum kostet pro Monat zwanzig Franken.
Zahlreiche Italiener heiraten Schweizer Frauen. Jede fünfte Heirat wird zwischen einem Italiener und einer Schweizerin geschlossen. Die deutschsprachige Bevölkerung befindet sich in Göschenen bald in der Minderheit. 75 Prozent der Einwohner sind plötzlich Italiener. Selbst die Deutschschweizer Dorfnamen werden italienisiert. Aus Göschenen wird Cascinotta, Flüelen wird Fiora, Gurtnellen Cortinella.
Bis zu 25’000 Arbeiter arbeiten in der Röhre. Die Hitze im Tunnel beträgt bis zu 34 Grad. Die Arbeiter verbringen oft zwölf Stunden hintereinander im Tunnel. 199 Arbeiter sterben während der Bauarbeiten. Giftige Dynamitdämpfe, Baustaub, Krankheiten und schlechte hygienische Verhältnisse bringen Dutzenden weiteren Arbeitern den Tod.
Streik
Am 28. Juli 1875 bricht in Göschenen ein Streik aus. Urner Gendarmen und bewaffnete Zivilisten werden aufgeboten, die Revolte niederzuschlagen. Die Arbeiter werfen Steine, die Gendarmen schiessen: vier Arbeiter sterben, mehrere werden verletzt. Die Streikenden hatten eine Erhöhung ihres bescheidenen Lohns um einen Franken pro Tag verlangt. Im gleichen Jahr bricht in Airolo ein Streik aus. Auch dort wird die Revolte niedergeschlagen.
Am 29. Februar 1880 wird der Tunnel durchstochen, nach sieben Jahren und fünf Monaten Bauzeit. Bald schon werden die Schienen gelegt.
Am 22. Mai wird der Tunnel feierlich eingeweiht. In Luzern findet ein Fest statt, an dem Medienvertreter aus ganz Europa teilnehmen.
Die Autoren schreiben: „Wenn man der Version des Journalisten der ‚Gazzetta Ticinese’ folgt, spürt man an jenem 22. Mai eine festliche Atmosphäre in Luzern. An den Fenstern in der Altstadt wehten die Fahnen der Schweiz, Deutschlands und Italiens, an den Balkonen hingen bunte Stoffbänder und an den Fenstersimsen wehten farbenfrohe Wimpel mit den Wappen der Schweizer Kantone. In Luzern stammten 360 illustre Gäste aus Italien, 100 aus Deutschland und 300 aus der Schweiz, darunter 5 Bundesräte.“
Auf dem Domplatz in Mailand finden die Feierlichkeiten einen Tag später, am 23. Mai, statt.
Der Tunnel ist das eine, die Bahninfrastruktur das andere. Kehrtunnels und Brücken müssen gebaut werden. Auf der Gotthardstrecke werden 101 Eisenbrücken gebaut.
Für das Tessin ist der Tunnel eine Befreiung und Ausbruch aus der Isolation. Nicht nur die Leventina lebt auf, überall entstehen Bahnhöfe, Handwerksbetriebe, Restaurants und Hotels, so in Faido, Lugano, Muralto und Locarno. Aus England reisen jetzt die reichen Söhne der Aristokratie an.
Zu den faszinierendsten Dokumenten des Buches gehört eine Ansicht des Bahnhofbuffets von Chiasso.
Das goldene Zeitalter der Bahn bricht an. Europa rückt zusammen.
Und dann viel später: der Autoverlad
1950 werden 31’000 Autos durch den Gotthard gefahren. Vier Jahre später, als richtige Autoverladezüge eingesetzt werden, sind es schon 250’000 und 1967 600’000.
Am 5. September 1980 wird der Gotthard-Strassentunnel eingeweiht, und am 15. Oktober 2010 wird die Oströhre im Neat-Tunnel durchschlagen.
Wertvoll ist das von Journal21-Autorin Birgit Eger Bertulessi ins Deutsche übersetzte Buch auch deshalb, weil es für einmal die Tessiner Sicht der Ereignisse betont. Wir Schweizer lieben den Gotthard, dieses „königliche Gebirge“, wie Goethe es nannte. Dieses Buch setzt dem mythischen Berg ein grandioses Denkmal. Es wird sicher nicht das letzte Gotthard-Buch sein, doch es wird ein wichtiges Referenzwerk bleiben.
Alt Nationalrat Adriano Cavadini, einer der Herausgeber und Autoren des Buches schreibt: Die Neat sei ein Beweis dafür, wie „langfristig die Schweizer Bürger dachten, als sie in zwei Volksabstimmungen 1992 und 1998 das Konzept guthiessen sowie die nötigen Milliardenkredite bereitstellten“.
Und weiter: „Dies zeigt ausserdem, wie eine kleine Nation mit einer gut funktionierenden direkten Demokratie in der Lage ist, komplexe Entscheide zu fällen und finanziell anspruchsvolle Projekte durchzuführen.“
Adriano Cavadini, Sergio Michels und Fabrizio Viscontini: „Die Gotthardbahn – immer wegweisend und zukunftsorientiert“
Übersetzung aus dem Italienischen: Birgit Eger Bertulessi
As Verlag, gebundene Ausgabe: CHF 79.90
mit rund 400 teils farbigen Abbildungen
ISBN 978-3-906055-90-9