Wir nahmen die Brücke, als wir den Mann-Fluss überquerten. Wir hätten auch den Traktoren und Motorrollern folgen können, die die zweihundert Meter Flussbett direkt unter die Räder nahmen. „Wann hat der Mann zuletzt Wasser gesehen?“, fragte ich meine Begleiterin von der Manndeshi-Stiftung. „Wahrscheinlich im Monsun von 2009“ antwortete sie mit süss-saurem Lächeln. Dies stimmte zwar nicht ganz, denn in den letzten drei Monsun-Jahren hatte es vereinzelt Regenfälle gegeben. Aber genügte ein Jahresniederschlag von 300 Millimetern, um einen Fluss zum Fliessen zu bringen?
Ein Lager für das Vieh
Wir waren auf dem Weg zu einem ‚Cattle Camp‘ ausserhalb von Mhaswad im Süden von Maharashtra. Ein ‚Cattle Camp‘ ist kein Ferienlager für Kühe, durchgeführt von frommen Hindus für ihre heiligen Tiere, vergleichbar etwa mit den Kuh-Altersheimen, wo alte Tiere, von ihren Besitzern auf die Strasse gesetzt, ein letztes Zuhause finden. Wenn schon Lager, war es eher ein Flüchtlingslager. Viertausend Stück Vieh standen auf offenem steinigem Grund herum, im dünnen Schatten flatternder Tücher und Plachen.
Auch die Bauern, die die Tiere mitsamt Familien und Hausrat hierher gebracht hatten, hatten ihre Feuerkochstellen im Freien; und die aufgerollten Decken liessen vermuten, dass sie im Freien schliefen. Wie seit je in Zeiten der Dürre hatten sie ihre Dörfer verlassen, weil es nichts mehr zu essen und trinken gab, weder für Mensch noch Tier. Die Alten und die Säuglinge hätten sie, zusammen mit den Ziegen, zurückgelassen, sagte der Bauer Bhanwari Shengde.
Es war nicht das einzige ‚Cattle Camp‘, das ich vergangene Woche sah. Nördlich von Mhaswad stand ein weiteres Lager mit dreitausend Tieren. Am Morgen, bei der Hinfahrt aus Satara, hatte ich kleine Karawanen von Frauen und Männern, Vieh und Ochsenkarren gekreuzt; ich hatte gemeint, es seien Nomaden. Als ich am Abend zurückfuhr, wusste ich es besser, und nun sah ich auch weitere Camps unweit der Strasse. Dann nahm ich den Geruch von verbranntem Dung auf, diesen untrüglich dörflichen Rauchduft, der jedem Indien-Narren die Sinne verwirrt und die Augen nass werden lässt.
Der tiefe Grundwasserspiegel
Eine Dürre bei Jahresbeginn? hatte ich ungläubig gefragt, als vor Wochen entsprechende Meldungen aus dem Innern von Maharashtra eintrafen. Dann begannen auch die Politiker darüber zu reden, und ein Parteiführer forderte eine Sondersession des Provinzparlaments - untrügliche Zeichen, dass Indien einem Krisenjahr entgegensieht. Warum sollte das Land von Wetterunbilden verschont bleiben, wenn doch die ganze Welt von klimatischen Anomalien geschüttelt wird?
Selbst wenn der Monsun dieses Jahr rechtzeitig eintrifft, bleiben immer noch fünf Monate. Wenn er denn überhaupt kommt. Sein Ausbleiben in den letzten drei Jahren hat Staubecken und Teiche leer gelassen, den Grundwasserspiegel auf unerreichbare Tiefen gesenkt. Wie tief er ihn denn schätze, fragte ich einen Bauern. Er schaute mich verständnislos an. „Was weiss ich, wir können uns ohnehin keine Pumpen leisten.“
Glanz und Elend der indischen Landwirtschaft
Ich war nicht wegen der Dürre in die Gegend gekommen, und nichts hatte mich darauf vorbereitet, als ich am Morgen im Bezirkshauptort Satara aufgebrochen war. Die ersten zwanzig Kilometer fuhr ich durch einen Paradiesgarten. Links und rechts der Strasse standen Mais und Zuckerrohr zwei Meter hoch, entlang den Verästelungen der Kanäle wuchs ein Dickicht von Palmen, Bambus und Mangobäumen.
In der Kleinstadt Koregaon erlebte ich ein kleines Verkehrschaos mit Traktoren, die Zuckerrohr geladen hatten, Viehfutter oder Wassertanks. Doch hinter jedem Hügelzug und jeder Talsenke wurden das Grün fahler und spärlicher. Kurzes, dürres Savannengras begann sich auszubreiten, durch das hindurch der schwarze Basaltstein schaute. Die geraden Linien der glitzernden Kanäle wurden von den Mäandern trockener Bachbette abgelöst.
Satara sei ein nationaler Pilot-Bezirk, hatte mir ein Regierungsbeamter stolz erklärt. Die Regierung in Delhi teste hier häufig ihre Hilfsprojekte. Nun begann ich den wahren Grund auszumachen: Die Region spiegelte auf dem engen Raum eines einzigen Distrikts Glanz und Elend der indischen Landwirtschaft. Wo Kanalwasser auf die Felder fliesst, und wo der Monsunregen reichlich fällt, zeigt der Boden, wozu er fähig ist. Weiter im Landesinnern, wo künstliche Bewässerung wegen des Abebbens der Niederschläge überlebenswichtig wird, ausgerechnet dort fehlt das Kanalwasser.
Wo die Politiker wohnen
Dabei könnte auch dieses herangeschafft werden. Einige Dutzend Kilometer westlich von Satara, dort, wo die Hügelkette der Western Ghats auf 1500 Meter ansteigt, bevor sie ins Arabische Meer abfällt, liegt ein veritables Wasserschloss. Mahabaleshwar, die alte Sommerfrische von Bombay, erhält eine jährliche Niederschlagsmenge von 6200 Millimetern Regen. Zu dessen Füssen zieht sich über 65 Kilometer der Stausee des Koyna-Damms in die Länge. Ihm verdankt Satara und das ganze westliche Maharashtra seinen Reichtum.
Aber es reicht nicht, um das arme Hinterland auch nur des Bezirks zu versorgen. Denn neben dem abgeleiteten Kanalwasser schiesst ein grosser Teil des Koyna-Wassers durch Druckleitungen tausend Meter ins Küstengebiet hinunter. Dort produziert es einen beträchtlichen Teil des Stroms der Stadt Bombay, zweihundert Kilometer im Norden, bevor sich das wertvolle Nass ins Meer verliert. „Das Wasser kommt aus unserem Bezirk“, klagte Dr. Khodalkar im staatlichen ‚Primary Health Centre‘ von Mhaswad. „Aber statt auf unsere Felder zu fliessen, bringt es die Strassen von Bombay zum Leuchten. Dort“, fügte er lächelnd hinzu, „wo unsere Politiker wohnen“.
Dürre im Zeichen des Vorwahlkampfes
Der landwirtschaftliche Reichtum von West-Maharashtra hat auch prominente Politiker-Karrieren ermöglicht. Satara ist der Wahlbezirk des Regierungschefs von Maharashtra. Im Zentralparlament ist es der Wahlkreis von Sharad Pawar, Landwirtschaftsminister und einer der mächtigsten Politiker Indiens. Und an der Reaktion der Politiker auf die drohende Dürre sieht man, dass sie sie ernstnehmen müssen, denn nächstes Jahr werden in Bombay und Delhi die Parlamente neu bestellt.
Es war die Regierung, die die Errichtung der ‚Cattle Camps‘ angeordnet hatte. So konnte sie ihre Notmassnahmen bündeln und das Risiko eines Massensterbens unter den Tieren – und von Hunger unter den Menschen – vermindern. Ich musste meine Ansicht rasch revidieren, die ich am Morgen im Verkehrsstau von Koregaon gebildet hatte. Nicht alle Traktoren trugen die Ernte ein; viele waren mit Wasser und Tierfutter zu den Viehlagern unterwegs gewesen. Selbst ein Veterinär schaue regelmässig dort vorbei, hatte mir Dr. Khodalkar versichert.
Im Büro der Manndeshi-Stiftung traf ich am Nachmittag den ehemaligen Bürgermeister von Mhaswad. Ich fragte ihn, ob Sharad Pawar denn manchmal hier vorbeischaue. „Er war noch nie in Mhaswad. Aber wir sehen ihn, wenn sein Helikopter vorbeifliegt“. Und, von Enttäuschung plötzlich auf Stolz wechselnd, fügte er hinzu: „Die Leute sagen, wenn er herunterschaue, könne er jeden Weiler beim Namen nennen“.