Lehrerinnen und Lehrer müssen in drei Kreisen zu Hause sein: im Klassenraum, im Mikrokosmos Schule, im gesellschaftlichen Leben. Weder der Rückzug ins Unterrichtszimmer noch die Flucht in die Aussenwelt führen weiter. Denn „die Welt ist zwischen den Menschen“, wie die jüdisch-deutsche Politphilosophin Hannah Arendt zu bedenken gibt. Lehrerinnen bauen diese Welt zusammen mit ihren Schülern auf. Aus einer Haltung zur Welt heraus. Darum kommt es in Erziehung und Bildung – etwas pathetisch mit Arendt formuliert – auch darauf an, ob Lehrpersonen diese Welt genügend lieben, die Welt in ihrer Vielfalt und Problematik. Ohne Leidenschaft und Faszination für die Welt geht das nicht. Bedeutsam ist, wie die Lehrerin lebt, wie sie zur Welt steht und was sie ihren Kindern vorlebt.
Ein Lehrer, der nur von Schule etwas versteht, versteht auch diese nicht. Was es braucht, ist Weltbezug, Aussenkontakt und Verkabelung: Der Lehrer als Polyp. Er hat überall Arme, Riecher und Antennen, sagt der Philosoph Ludwig Hasler. So wird er zum Brückenbauer zwischen Welt und Kind – und lässt es die Wechselwirkung von Ich und Welt erfahren.
Vergrösserungsglas und Verkleinerungsspiegel
Zwei Optiken braucht die gute Lehrerin, zwei Sichtweisen benötigt der gute Lehrer. Beide benutzen ein Vergrösserungsglas für die winzigen Dinge des Lebens. Damit wecken sie bei ihren Kindern das Staunen vor dem Kleinen. Einfühlsame Pädagogen setzen zudem einen Verkleinerungsspiegel ein. So machen sie die grossen Dinge dieser Welt überschaubar und bringen sie in den Griff einer kleinen Kinderhand. Vergrössern und verkleinern, den Mikrokosmos erklären und den Makrokosmos verstehbar und damit die Kinder zu Verstehenden machen, das ist ihre wichtigste Aufgabe.
Das Vergrösserungsglas und der Verkleinerungsspiegel: Sie öffnen dem Interesse und Verstehen Tür und Tor. Diese Zugänge zur Welt gehen auf zwei Seiten auf, nach innen und nach aussen. Darum verbinden gute Schulen das Innen und das Aussen, die Schule und das Leben. So steht es programmatisch in vielen Leitbildern. Doch was heisst das?
Leben und Wirken in drei Kreisen
In unserem Staat ist die Schule ein öffentliches Unternehmen. Lehrerinnen und Lehrer haben einen demokratischen Auftrag – ob sie es wollen oder nicht – und damit eine dreifache Aufgabe. Sie unterrichten und bilden ihre Kinder in der kleinen Welt der eigenen Klasse, sie tragen Mitverantwortung im Mikrokosmos Schule, und sie haben ein feines Gespür für das gesellschaftliche Leben. Es geht immer um
- das pädagogische Wirken im Schulzimmer, in der je individuellen Gemeinschaft von Lehrerin und Schülern,
- das Engagement für die Polis im Kleinen, für den Lebensraum Schulhaus und die Schulgemeinde sowie um
- die Partizipation als Citoyen unserer Gesellschaft.
Die Lehrerin als Brückenbauerin
Da ist einerseits der Kernbereich Unterricht mit dem elementaren Bildungsauftrag. Der Mensch ist nicht einfach, er hat „auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein“, wie es der Philosoph Peter Bieri – unter dem Pseudonym Pascal Mercier auch als Romancier bekannt – formuliert.
Wer führt das Kind und den jungen Menschen in diese Welten, oft auch in Gegenwelten? Die Lehrerin, der Lehrer. Darum muss der Lehrer das Leben verkörpern, die Lehrerin in der Welt stehen und eine Ahnung haben vom wirklichen Leben. Nur wenn der Lehrer sein Wissen durchpulst mit seiner Verve und Vitalität, springt es auf Schülerinnen und Schüler über. Das ist der Charme, aber auch die Krux am Lehrberuf: Es kommt darauf an, wie die Lehrerin lebt, wie sie zur Welt steht und was sie vorlebt: die Lehrerin als Brückenbauerin.
Kein E-Learning kann die Lehrperson ersetzen, kein Computer-Based-Training diese Funktion übernehmen. Hirnforscher wie Gerhard Roth und Joachim Bauer betonen das mit Nachdruck. Brücken bauen zwischen dem Kind und der Welt kann nur die persönlich präsente Lehrerin, Übergänge aufzeigen zu kulturellen Gegenwelten nur der vital wache Lehrer. Das ist nicht immer leicht, bleibt aber als Aufgabe. Der erste Kreis.
Mehr Freiheit statt mehr Vorschriften
Das Handeln im Klassenzimmer ist eingebettet in das System Schule. „Ich und meine Klasse“ ist das eine, „Wir und unsere Schule“ das Eigentliche. Systemisches Denken unterstützt die Lehrerin im Diskurs und stärkt den Lehrer im dialogischen Handeln mit Kolleginnen und Kollegen, mit Eltern und Behörden. Ein Schulteam ist eben nur so stark wie es sich gegenseitig stützen kann.
Diskursives Ethos und ein Esprit d’équipe sind tragende Eckwerte eines gelingenden Schullalltags. Dafür haben auch Schulleitungen zu sorgen. Nicht mit Papier und PowerPoint, sondern mit Optimismus, Vertrauen und Caring – nicht mit Excel und Events, sondern mit Exzellenz, Ethik und Engagement. Lehrer brauchen mehr Freiheit, nicht mehr Vorschriften und Sitzungen. Die Schule als Lebensraum und Polis im Kleinen muss „die Menschen stärken und die Sachen klären“ (Hartmut von Hentig). Der zweite Kreis.
Die Lehrerin als Citoyenne
Die Schule ist Teil der Gesellschaft. Darum müssen Lehrerinnen sozietätsfähig sein. Lehrer sollten sich nicht biedermeierisch bloss ums Brauchbare kümmern. Nein. Sie müssen sich für gesellschaftliche Prozesse interessieren, müssen intellektuell turnen, auch an Geräten, die sie im Beruf vermutlich nie verwenden werden – mit hellwachen Sinnen, neugierigen Antennen, pfiffiger Antizipation. Gerade das scheinbar Nutzlose erweist sich für Lehrer als das wahrhaft Nützliche. Sie müssen am Puls der Zeit schmecken, sich freuen an Muscheln, in denen „der Zeitschlamm musiziert“ (Karl Kraus).
Die Gesellschaft ist voller Leben und Veränderung – in dynamischer Vorwärtsbewegung. Lehrer müssen „am Leben dranbleiben“. Leben ist nicht standardisierbar. Es muss sich täglich aufrappeln, neu erfinden, zumindest finden. Leben lebt von Zufall, Störung, Spiel. Und aus diesem Leben ist die Gesellschaft gewoben. Der Citoyen interessiert sich dafür, nimmt daran teil, engagiert sich. Aus diesem Holz ist er geschnitzt, das „Get involved!“ ihm eigen. Die Lehrerin als Citoyenne. Nur so wird sie nicht zur pädagogischen Tante, ein Lehrer nicht zum müden Schulmuffel und trägen Bourgeois. Der dritte Kreis.
Leidenschaft für die Welt
Lehrerinnen sind Kulturschaffende – und darum auf die Welt bezogen. Aus der Leidenschaft für die Welt ergibt sich die Leidenschaft für den pädagogischen Auftrag. Das ist die alte Idee der Pädagogik, und das betonte die jüdisch-deutsche Politphilosophin Hannah Arendt in ihren Schriften. Wer neugierig und an der Welt interessiert ist, kann sie ins Schulzimmer holen, kann seine Schülerinnen auf diese Welt vorbereiten, sie ihnen erklären und mit ihnen leben. Wer einen Weltbezug hat, zeigt seinen Kindern das Leben, wie es ist, damit es wird, wie es sein soll. Am Kinde orientiert und der Welt zugewandt.
Lehrer vermitteln Bildung; das ist ihre Aufgabe. Bildung ist mehr, als PISA misst, mehr als ein Katalog von Kompetenzen, wie es der Lehrplan 21 suggeriert. Bildung heisst, sich kontinuierlich Wissen und Können aneignen und so Herkunft mit Zukunft verbinden; denn „das Gewesene ist unser Wesen“, um es mit Hegel und Heidegger zu sagen. Mithilfe dieser Erkenntnisse kann man die Welt deuten und daraus Impulse für das eigene Handeln gewinnen. Bildung als Kultivierung seiner selbst. In diesem Sinne ist Bildung nicht ein Zustand, sondern persönlicher Prozess und individuelle Entwicklung eines Menschen.
Was nicht im Stundenplan steht
Das Eigentliche, das Wesentliche einer Schule ist curricular nur unvollständig erfasst. Es lässt sich auch kompetenztheoretisch kaum einholen. Nicht alle Bildungsziele sind operationalisierbar, vor allem die Bildungsziele der höheren Taxonomie-Ebenen nicht. Wer in der Bildung aber nur das Messbare und Quantifizierbare sieht, begeht einen Irrtum. Der Philosoph Sir Karl Raimund Popper bezeichnet diesen Fehler in seiner Positivismuskritik als Reduktionismus.
Schule und Unterricht sind eben mehr als im Lehrplan und Stundenplan steht. Die Pädagogik umschreibt es mit den Begriffen Schulleben und Schulkultur. Dieser Bereich prägt die Atmosphäre einer Schule nachhaltig: Musik und Theater gehören dazu, Spiel und Sport, gemeinsame Feiern und Anlässe, Intensivtage und Schulreisen. Das alles steht nicht im Stundenplan. Doch es macht die Schule aus. Es ist über das Funktionale hinaus bedeutsam und wichtig – nicht zuletzt heute.
Doch manches davon ist durch strukturelle und juristische Hürden gefährdet. Leider. Dennoch müssen Lehrer diesen kulturellen (Mehr)Wert verkörpern und so ihren Kindern vorleben, was Bildung bedeutet. Konkret und hautnah, auch als Gegenkraft zum utilitaristischen Zeitgeist und seinen verlockenden Trends.
Bildung als universelles Interesse
Wer um sich sieht, spürt die Tendenz, Bildung zu beschleunigen, zu instrumentalisieren und zu funktionalisieren. Die Hast der globalisierten Geschäftswelt hält Einzug in den Schulen. Dies bringt sie in Atemnot. Und weil in dieser Welt bald alles dem kalten Kalkül des ökonomischen Nützlichkeitsdenkens und der betriebswirtschaftlichen Effizienz unterworfen wird, betrachtet man Bildung vermehrt unter dem pragmatischen Aspekt der Verwertbarkeit, des „Fitmachens für“. Doch das kann es nicht sein. Niemand will Funktions-Roboter; wir brauchen Persönlichkeiten mit einem ethischen Hintergrund.
Darum ist kulturelle Bildung bedeutsam; darum haben Kultur und Sport im Fächerkanon wie im Leben ihren unverzichtbaren Wert. Beide helfen mit, sich die Welt zu erschliessen und anzueignen – aktiv und kreativ, allein oder im Team, ganzheitlich und vielseitig. Man kann diesen Bereich nicht erzwingen. Kultur entsteht und braucht ihre Zeit. Man wächst in sie hinein. Langsam, behutsam – im ursprünglichen Sinne des griechischen Wortes scholé (Musse). Kinder und Jugendliche sollen erfahren: Schule ist gestaltet und gestaltbar – kulturell, sozial und in Interdependenz zur Gesellschaft. Das ermöglicht Bildung als universelles Interesse.
„Kolumbus, Kolumbus! Überall!“
Die drei Kreise stehen in einem osmotischen Verhältnis. Die Korrelation kreiert das Vergrösserungsglas und den Verkleinerungsspiegel. Darin liegt das animierende Geheimnis der pädagogischen Aufgabe, darin verbirgt sich das kleine Glück im schulischen Alltagskosmos: entdecken und erfinden, ermöglichen und ermutigen, aufbrechen zu Experimenten und Abenteuern. Bildung als tätiges Begreifen der Welt. „Kolumbus, Kolumbus! Überall!“, wie der Kreuz- und Querdenker Georg Christoph Lichtenberg in seinen Sudelbüchern notierte.
Entdecken ist ansteckend. Denn nicht das Wissen steckt an, sondern das Suchen und Handeln: die Welt als Logbuch fürs Klassenzimmer und als Kompass für die Orientierung im Leben. Die beiden äusseren Kreise sind dabei Energie und Elixier für den Kernkreis Unterrichtsalltag. Nicht als resignatives Refugium, sondern als stimulierende Resultante eines Bezugs auf die Welt und die Sache – im Dienste der Bildung unserer Kinder und Jugendlichen.