Weder bei der Pandemiebekämpfung noch wirtschaftlich glänzt Griechenland – im Gegenteil. Zudem machen sich autoritäre Tendenzen breit. Das scheint aber ausserhalb von Hellas niemanden zu stören. Warum?
Nach der Delta-Welle kam gleich Omikron. Nach wie vor kombiniert Griechenland einschränkende und diskriminierende Massnahmen mit hohen Todeszahlen. Im Vergleich mit der Bevölkerungszahl sind diese etwa doppelt so hoch wie diejenigen in der Schweiz und nur wenig tiefer als in Rumänien, das wenige Einschränkungen kennt. Wirtschaftlich haben die extremen Restriktionen und Schliessungen das Land wenig überraschend wieder in eine starke Depression gedrückt – ähnlich derjenigen während der Finanzkrise –, von der man dachte, dass man sie nur einmal im Leben durchmachen würde. Die Inflation ist da, der Schuldenstand beträgt rund das doppelte im Vergleich zur Wirtschaftsleistung als beim Ausbruch der Finanzkrise und das Land gerät nur deshalb nicht in Zahlungsverzug, weil die Zinsen tief sind und die Fälligkeiten gestreckt wurden. Die Regierung handelt autoritär, willkürlich und fühlt sich niemandem zur Rechenschaft verpflichtet.
Griechenland gab dabei mehr Geld aus als jedes andere Land in der Eurozone, um seine Wirtschaft zu stützen. Während das Primärdefizit im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) im letzten Jahr trotzdem ganze 7% betrug, soll es im 2022 auf 1,5% zurückgeführt werden. Es geht hier wie gesagt nur um das Primärdefizit. Beim Gesamtdefizit kämen noch der Schuldendienst und die Amortisationen dazu. Ob eine solche Reduktion gelingt?
Als weiterer alarmierender Indikator sei angefügt, dass der Konsum von Antidepressiva wie Benzodiazepine und Antipsychotika in Attika während den beiden Lockdowns um bis zu 60 Prozent zugenommen hat. Und das in einem Land, das sowieso einen entspannten Umgang mit diesen Drogen pflegt.
Während also den wirtschaftlich erfolgreichen Ungarn und Polen die Rolle der bösen Buben in der EU zugedacht wurde, scheint sich niemand am gefährlichen Weg zu stören, den Griechenland eingeschlagen hat. Warum? Die Gerichte sind ebenso abhängig von der Exekutive und der Legislative wie in Polen und die Medien berichten ebenso unkritisch wie in Ungarn.
Die wirtschaftliche Situation erinnert mich an die Nullerjahre: Griechenland schuf ein schuldenbasiertes Wirtschaftswachstum, eine Blase, die bei einem äusseren Anstoss platzen würde. Einem aufmerksamen Beobachter hätte das auffallen müssen. Aber niemand läutete die Alarmglocke, bis es zu spät wurde. Heute ist die Situation insofern schlimmer, als das Schuldenmachen nicht einmal zu einem Wachstum auf Pump geführt hat, sondern durch die übermässig harten Lockdowns und die Schliessungen eine Depression nicht verhindern konnte. Geht man weiter zurück in die neugriechische Geschichte, ist nicht nur bemerkenswert, dass das Land sich immer wieder ruiniert, sondern, dass das von der internationalen Gemeinschaft offenbar toleriert wird.
Heinz A. Richter, Griechenlandhistoriker
Der bekannte Griechenlandspezialist und Historiker Heinz A. Richter ist diesem Phänomen während der Finanzkrise in einem luziden Essay nachgegangen und verortet den Grund dazu im Klientelwesen, das offenbar nicht auszurotten ist und auch die internationalen Beziehungen des Landes dominiert. Dieses Essay wäre eigentlich Pflichtlektüre für alle, die in Politik und Wirtschaft mit diesem faszinierenden und liebenswerten Land zu tun haben. Richter zeigt überzeugend, dass die Wurzel der Schuldenkrise und – wie ich vermute – auch des sich abzeichnenden jetzigen Scheiterns in der verhängnisvollen politischen Kultur Griechenlands zu suchen sind. Wenn immer das Land vor dem Abgrund steht, verlässt man sich darauf, dass europäische Hilfe das System wieder stabilisiert und dann wieder zum Status quo ante zurückgekehrt werden kann, ohne am überkommenen Klientelsystem etwas zu ändern. Offenbar ist die politische Kaste Griechenlands sicher, dass dies auch in Zukunft funktioniert.
Wiege der europäischen Kultur – das Erbe der ottomanischen Herrschaft
Griechenland ist zwar die Wiege der europäischen und abendländischen Kultur, verpasste aber die für Westeuropa entscheidenden Prägungen durch «Renaissance, Reformation, Gegenreformation, Absolutismus, Rationalismus, Aufklärung und bürgerliche Revolution», schreibt Richter. Nach dem Fall von Konstantinopel 1453 stand praktisch in ganz Griechenland die Zeit still – in grossen Teilen bis anfangs des 20. Jahrhunderts. Man könnte hinzufügen, dass eine kulturelle Scheidelinie Europa bis heute in die Teile trennt, die weiland ottomanisch beherrscht respektive österreichisch-ungarisch verwaltet wurden. Was der Niedergang dieser beiden Mächte bewirkt hat, ist das, was die Geschichtsbücher des 19. Und 20. Jahrhunderts prägt und geprägt hat. Und das 21. Jahrhundert?
Blättern wir zuerst zurück: Die ottomanischen Herrscher – so Richter – vernichteten oder vertrieben zuerst die bisherige Elite, während die lokalen Notablen in ein Geflecht von Herrschaft und Abhängigkeit eingebunden wurden. Sie vertraten einerseits die osmanische Regierung, führten und beschützten aber andererseits die lokale Bevölkerung. Das verlieh ihnen Prestige, Macht und – Reichtum. So entstand ein Geflecht von Abhängigkeitsbeziehungen. Es existierte im ganzen osmanischen Reich und «ist der konkrete historische Ursprung des heutigen Klientelwesens» folgert Richter.
Die osmanische Herrschaft führte aber dazu, dass die Griechen den Staat bis heute als Feind und Ausbeuter erleben. Steuerhinterziehung im Kleinen und im Grossen wird deshalb als Kavaliersdelikt angesehen. Ein breites Bürgertum, das wie in Westeuropa den Staat prägt und sich mit dessen Institutionen identifiziert, existierte in Hellas nie.
Wie funktioniert Klientelismus?
Das Schmiermittel, mit dem Klientelismus funktioniert, ist der Zugriff auf staatliches Geld. Übertreiben es die klientelistischen Netzwerke, kommt es früher oder später zur Staatspleite. Das ist, wie in diesen Spalten gezeigt, mehrmals passiert, worauf Griechenland jeweils zu harten Bedingungen gerettet wurde. Griechenland wurde aber zu keinem Zeitpunkt dazu gedrängt, das Klientelsystem aufzugeben, das schliesslich Ursache allen Übels ist, noch die Reichen anzutasten – im Gegenteil. Warum?
Die in Griechenland jeweils herrschende Schicht, beschränkt das Geflecht von Abhängigkeiten nicht auf das eigene Land. Sie schafft auch Abhängigkeitsverhältnisse zum Ausland. Deshalb ist es nicht im Interesse dieser Länder, dieses System zu zerstören und Griechenland zu einem gleichberechtigten Partner zu machen.
Metaxas, die Besatzung und der Bürgerkrieg
Gibt und gab es keine Möglichkeit, dieses System zu überwinden? Doch, nach dem Zweiten Weltkrieg hätte sich diese Chance geboten. Es begann mit Ioannis Metaxas. Diese schillernde und vielschichtige Persönlichkeit war alles andere als ein Demokrat; ab 1936 regierte er autoritär, schätzte aber viele Dinge richtig ein. Nicht nur verzichtete er völlig auf Führerkult und Pomp, sondern setzte auf Gleichberechtigung der Minderheiten, führte den Achtstundentag und einen gesetzlichen Mindestlohn ein und schuf die Sozialversicherungsanstalt IKA, die es bis zum heutigen Tag gibt und die im griechischen Wohlfahrtsstaat immer noch eine zentrale und stabilisierende Rolle hat. Teilweise nahm er damit den Kommunisten den Wind aus den Segeln und verfolgte sie erbarmungslos, wie man in Büchern wie «Το καπλάνι της βιτρίνας» (dt. Wildkatze unter Glas, Kinderbuchverlag, Berlin, DDR, 1973) von Alki Zei nachlesen kann; es gelang ihm aber auch, die alten Klientel-Netzwerke zu zerschlagen. Nach dem Überfall Mussolinis auf Griechenland, gelang es seiner Armee sogar, die überlegenen Italiener zurückzuschlagen, so dass Mussolini Hitler zu Hilfe rufen musste.
Die Restauration des Klientelsystems
Während der deutschen Besatzung war der Zugriff auf staatliche Gelder blockiert und damit die Klientelnetzwerke bedeutungslos. Es folgte bis 1949 ein blutiger Bürgerkrieg. Griechenland war im westlichen Lager und für Grossbritannien bestand die Garantie, dass das so bleibt, in der Restauration der alten klientelistischen Abhängigkeiten – innerhalb von Griechenland und in Bezug auf Grossbritannien. «Griechenland wäre (sonst) zu einem gleichberechtigten Partner geworden. Für Churchill war dies unvorstellbar», bilanziert Richter.
Vom Ende des Bürgerkrieges bis zum Amtsantritt der ersten PASOK-Regierung 1981 war Griechenland recht stabil und zwar deshalb, weil die Regierungen es mit dem Geldausgeben nicht übertrieben und das Klientelsystem auf dem Buckel der Armen am Leben erhielten.
«Die Wirtschaftsoligarchie ist dabei eng mit der politischen Oligarchie verfilzt», schreibt Richter. Das heisst: Jeder Ministerpräsident, der durch eine substanzielle Besteuerung der Reichen eine spürbare Entlastung der Staatskasse erreichen möchte, muss eine Palastrevolution fürchten. Wird es finanziell eng, versuchen die politischen Parteien, Forderungen abzuwehren, die ihre Klientel schwächen könnte. Niemand denkt daran, in solchen Situationen das Klientelsystem abzuschaffen oder zu schwächen. Sparmassnahmen – das zeigt die Finanzkrise – sind nur insofern durchsetzbar, als die kleinen Leute zur Kasse gebeten werden.
Dieses System hat deshalb auch die Finanzkrise überlebt und ist quietschlebendig. Die Regierungspartei Nea Dimokratia von Ministerpräsident Mitsotakis gibt sich gegen aussen und gegenüber dem Ausland modern, ist aber eine klassische Klientelpartei. Wirtschaftliche und politische Freiheit sind Lippenbekenntnisse und nur insofern von Wert, als sie der eigenen Klientel nützen. Klientelverhältnisse funktionieren nach dem Prinzip von «do ut des»: Gib, dass dir gegeben wird. Die Politiker versorgen zum Beispiel die Menschen mit Jobs beim Staat und die Beglückten stimmen für diese Politiker oder diese Partei. Der jetzige Ministerpräsident, Kyriakos Mitsotakis ist zum Beispiel Abkömmling einer der mächtigen Politikerfamilien Griechenlands. Schon sein Vater war Politiker und Ministerpräsident und er wurde von Kindsbeinen auf darauf vorbereitet, das Land zu regieren. Bereits 2003 wurde er durch das World Economic Forum in den Kreis der Global Leaders of Tomorrow aufgenommen. Sein Beziehungsgeflecht ist deshalb nicht nur im Inland dicht, sondern auch im Ausland. Obwohl erst sei gut zweieinhalb Jahre im Amt, kennt er die Politiker und Wirtschaftsführer, auf die es ankommt, seit vielen Jahren.
Damit ist erklärt, warum Griechenland mit dieser offensichtlich nicht nachhaltigen Finanzpolitik immer weiterfährt. Die Frage ist aber nicht beantwortet, warum das international erst «bemerkt wird», wenn es zu spät ist. Antworten sind hier notgedrungen spekulativ. Der Versuch einer Erklärung sei aber gewagt.
Auch international – bis es knallt
Auch international funktioniert Griechenland nach dem Klientelsystem. Die Griechen erledigen an der Grenze zur Türkei die Drecksarbeit für Europa. Sie bewegen sich politisch im Mainstream und tun alles, was dieser Mainstream verlangt – zumindest auf dem Papier. Das zieht sich durch alle Bereiche durch – von den Beziehungen innerhalb der Europäischen Union und der NATO. Auch Änderungen im Familienrecht, wie zum Beispiel das obligatorische gemeinsame Sorgerecht werden ohne Rücksicht auf die griechische Lebenswirklichkeit handstreichartig durchgesetzt. Auch in Bezug auf das Pandemiemanagement richtet sich Athen an dem aus, was die wichtigsten Partner wie Deutschland, Frankreich oder USA machen, auch wenn weltweit anerkannte Experten wie der Grieche und Stanford-Professor John Ioannidis davor warnten. Ein Alleingang im Pandemiemanagement wie Schweden oder beim Familienrecht wie Ungarn, Polen oder Litauen würde die jetzige griechische Regierung nicht wagen, auch wenn dies in der Bevölkerung durchaus populär wäre. Die Regierung ist wie gesagt nahe an ihren internationalen Partnern dran und persönlich mit ihnen verflochten – zum Beispiel durch den Ministerpräsidenten. Im Inland ist dieselbe Regierung eng verflochten mit den Anspruchsgruppen, die von ihr Vorteile, Jobs und Geld erwarten. Die Strategien, die verfolgt werden, sind dabei durchaus langfristig – aber meist hinterhältig und nicht zum Vorteil des Landes.
- Im letzten Jahr vor den Sommerferien wurde die Impfpflicht für Feuerwehrleute eingeführt und alle Ungeimpften auf unbestimmte Zeit beurlaubt. Als im Sommer die Feuer ausbrachen, fehlte es an allen Ecken und Enden. Insbesondere in schützenswerten Waldgebieten, wo die Regierung Windparks einrichten will, war keine Löschkapazität übrig.
- Auch alle ungeimpften Angestellte im staatlichen Gesundheitswesen wurden beurlaubt. Kürzlich wurde bekannt, dass sie nun Ende März entlassen werden sollen. Dieser planvoll herbeigeführte Personalmangel ist sicher einer der Gründe für die hohen Todeszahlen. Gleichzeitig sickerten Pläne durch, das Gesundheitswesen zu privatisieren – etwas, was bis vor Kurzem völlig undenkbar war. Zufall? Gleichzeitig wurde aber eine neue Impfkampagne angekündigt, die EUR 5 Mio. kosten darf.
Für das Wohlverhalten auf internationaler Ebene erwartet die griechische Regierung von ihren Partnern aber, dass zum Beispiel keine Fragen in Bezug auf die Art gestellt wird, wie die gegenwärtig tiefen Flüchtlingszahlen zustande kommen. Oder auch in Bezug auf die Finanzpolitik. Das würde erklären, warum das gähnende Defizit keine Fragen provoziert. Wenn aber die galoppierende Inflation im Euroraum dazu führt, dass die Europäische Zentralbank (EZB) die geldpolitischen Zügel anzieht, dann würde das über kurz oder lang die Refinanzierungskosten für den griechischen Schuldenberg in die Höhe treiben. Wie lange könnte das übersehen werden?
Der Trumpf der Griechen
Gespaltene Gesellschaft, eine Regierung, die nach dem Prinzip «Teile und herrsche» vorgeht, eine wirtschaftliche Depression und kaum Perspektiven – wie kommt es, dass die Griechen in Anbetracht dieser Situation nicht verzweifeln? Verzweiflung macht sich zwar breit, aber die Griechen sind nicht nur krisenerfahren, sondern profitieren auch von intakten familiären und sozialen Bindungen und Solidarität sowie einem tief verankerten Volksglauben, wie es ihn in Westeuropa längst nicht mehr gibt und wie er kaum zu verstehen ist, wenn man ihn nicht selber erlebt hat. Im heutigen Griechenland ist die Stellung der orthodoxen Kirche einzigartig. Diese hatte in ottomanischer Zeit massgeblich dazu beigetragen, dass die griechische Sprache und Kultur sowie das Christentum erhalten blieben. Ihre Präsenz und ihre theologische Tiefe ist bis heute ein identitätsstiftender Bestandteil des neugriechischen Staates. Dieser arbeitet zwar im Guten wie im Schlechten mit ihr zusammen. Die Kirche ist ein Staat im Staat und eine der mächtigsten Institutionen von Hellas – unentbehrlich für das Klientelsystem, aber auch intransparent und heute durch den staatlichen Impfzwang gespalten. Das grosse und bleibende Verdienst der Kirche ist aber die Tatsache, dass das Land trotz allen Widerwärtigkeiten bis heute ein festes gesellschaftliches Fundament aufweist, das in der christlich-abendländischen Kultur verankert ist, etwas, was sich in Zukunft als unschätzbarer Vorteil erweisen könnte und das die griechische Bevölkerung zusammenhält.