Oft haben wir in den vergangenen Tagen unsere guten Wünsche an Freunde und Bekannte zum Weihnachtsfest mit dem Zusatz versehen: „… und alles Gute im Neuen Jahr“. In normalen Jahren sind diese Worte bloss ein Ritual. Zwar ehrlich gemeint, aber ohne konkreten Inhalt.
Diesmal ist es anders. Wir verstehen die rituellen Neujahrswünsche sehr konkret. Ein mikroskopisch winziges Virus mit der Bezeichnung Covid-19 und dem putzigen Beinamen „Corona“ hat die Menschen rund um den Erdball in Angst um ihre Gesundheit versetzt. Noch schockierender ist die Erkenntnis, wie zerbrechlich und gefährdet in Wirklichkeit die Menschen, ihre Werke, ihre Gewohnheiten, im weitesten Sinne ihr Leben sind. Anders ausgedrückt: wie blitzschnell und radikal verändert oder zumindest bedroht sein kann, was noch kurz vorher wie in Beton gegossen erschien. Das gilt nicht zuletzt für uns auf der nördlichen Halbkugel in unseren politisch, wirtschaftlich, sozial und rechtlich so exakt geordneten Gesellschaften.
Umstrittene Eingriffe in die Freiheit
Als „Jahr der Maske“ ist 2020 bezeichnet worden. Etliche Kommentatoren griffen tiefer in die Kiste der historischen Erinnerungen und schrieben vom „dramatischsten Jahr seit der Wiedervereinigung“, manche meinten gar „seit Bestehen der Demokratie in Deutschland“. Es ist wahr, Corona und die dadurch notwendigen Einschränkungen und tiefen Eingriffe in das gewohnte Leben haben Spuren hinterlassen. Nie zuvor ist hierzulande mit solcher Intensität die Frage diskutiert worden, ob, inwieweit und vor welchem Bedrohungshintergrund sogar verfassungsmässig garantierte bürgerliche Grundrechte beschnitten werden dürfen. Immer wieder wurden die Gerichte wegen Massnahmen angerufen, die von den Regierungen des Bundes und der Länder unter (allerdings oft sehr später) parlamentarischer Beteiligung verkündet worden waren.
Auch das gehört zur Wahrheit und zu den Erfahrungen während des jetzt auslaufenden Jahres: Nicht immer waren die „oben“ getroffenen Entscheidungen durchgängig für die Bürger verständlich. Vor allem nicht für bestimmte Berufsgruppen sowie etwa Klein- und Mittelbetriebe. Aber ebenfalls nicht immer nachvollziehbar waren etliche Richtersprüche, mit denen Anti-Corona-Massnahmen wieder kassiert oder Protestdemonstrationen mit von vornherein erkennbarem Gewaltpotential gestattet wurden. Zu Recht machte das Wort von einer „weltfremden“ Justiz die Runde.
Von der „Rückkehr zur Normalität“ ist oft die Rede. Als Hoffnungs- und Sehnsuchtsbegriff. „Normalität“ – so klingt das Predigtwort von der Kanzel, so bestimmt es es auch die Weihnachts- und Neujahrsansprachen aus dem Kanzler- und dem Präsidialamt in Berlin sowie aus den Hauptstädten der Bundesländer. Und so füllt es auch die Kommentarspalten der Zeitungen. Und keine Frage, genau das – nämlich „Normalität“ – wünschen sich die allermeisten hier im Lande. Zumindest im Prinzip. Darum natürlich auch die „guten Wünsche für das neue Jahr“. Bloss, wie wird diese „Normalität“ denn aussehen, die so sehr zurückersehnt wird? Hat man sich, in Deutschland und darüber hinaus nicht schon längst an Entwicklungen und Zustände gewöhnt, die alles andere als wünschenswert sind?
Demokratie in der Bewährungsprobe
Tatsächlich haben doch jene Warner recht, die keineswegs erst „seit Corona“ unsere Gesellschaft, unsere Ordnung, ja das demokratische System allgemein in einer Bewährungsprobe sehen. Dass der in der Öffentlichkeit zu vernehmende Ton längst deutlich rauer geworden ist, muss gar nicht betont werden. Jeder hat das selbst erfahren, vielleicht sogar daran teilgenommen. Diese Entwicklung ist gewiss nicht von Internetz, Facebook und den anderen (un)sozialen Medien „erfunden“ worden. Schlechtes Benehmen geht nie auf Dinge zurück, sondern auf Menschen. Aber die neuen blitzschnell und weltweit agierenden Medien sind natürlich unglaublich wirksame Verstärker. Die Feuerwehr würde von „Brandbeschleunigern“ reden.
Und genau das geschieht schon seit geraumer Zeit. Längst schon ohne Corona und die dadurch bedingten Unannehmlichkeiten und gesundheitlichen Gefährdungen. Es ist das blitzgeschwinde, breitestgefächerte Verbreiten von brandgefährlichen Hassparolen, Hetzsprüchen gegen Menschen, die ganz einfach nur „anders“ sind. Dazu gehören, nicht zu vergessen, die „Botschaften“ mit leicht oder auch schwer durchschaubaren Lügen, von scheinbar einfachen (nationalen) Lösungen für schwierige, komplexe Probleme. Dazu zählen mittlerweile sogar Aufrufe zu Mord. Noch einmal: Das sind nicht mehr nur einzelne Entgleisungen, das ist täglich zu erlebende „Normalität“.
Dagegen gibt es kein Medikament in der Apotheke, und dagegen wird in den Laboren auch kein wirksamer Impfstoff entwickelt werden. Hier geht es ganz einfach um Menschen und Menschlichkeit, um Humanität und Solidarität – kurz: um Charakter, Erziehung, gegenseitigen Respekt. In den öffentlichen Foren macht, in diesem Zusammenhang, gern der Begriff von der „schweigenden Mehrheit“ die Runde. Es ist wohl ganz sicher wahr, dass die Radikalen im Land – AfD, Pegida, Querdenker, Reichsbürger, Identitäre und wie sie sich auch nennen mögen – in Tat und Wahrheit nur eine Minderheit darstellen. Aber sie geben auf den Strassen und in den Diskussionen unüberhörbar den Ton an.
„Schweigende Mehrheit“ zum Reden bringen
Sich daran zu erinnern, nach Wegen zu suchen, diese „schweigende Mehrheit“ zum Sprechen und vor allem zum Widerspruch zu ermuntern, sollte darum auch in den Wunsch nach einer „Rückkehr zur Normalität“ einfliessen. Kritik an Politikern und Politik ist nicht nur berechtigt, sondern notwendig. Und wenn die Corona-Krise mit all ihren tiefgreifenden Auswirkungen auf das Leben jedes Einzelnen bewältigt sein wird, dann muss es zu einem grossen Aufwasch kommen. Denn es sind fraglos eine Menge Fehler begangen worden. Wie hätte das auch vermieden werden können bei dem Druck der Verhältnisse. Und ganz gewiss wünscht sich kaum jemand aus dem Kreis der Kritiker, selbst derartige Massnahmen verkünden zu müssen.
Doch es steht mehr an als Normalität und Manöverkritik. Das Wort „Bewährungsprobe“ für unsere Gesellschaft ist schon richtig. Etwas mehr als die Hälfte der Deutschen, sagen die Meinungsforscher, hat noch Vertrauen in den Staat, so wie er verfasst ist. Mehr als die Hälfte? Das ist nicht überwältigend viel. Zugleich sieht jeder beim Blick über die Grenzen, dass es diesem Land und seinen Bürgern doch vergleichsweise gutgeht. Warum also hält die „schweigende Mehrheit“ den Mund, wenn die Schreier auf den Strassen Rabatz machen? Galt in Deutschland nicht einmal das Versprechen „Nie wieder“? Es war wie ein Schwur: Nie wieder Radikalismus und Extremismus, nie wieder Antisemitismus und Fremdenhass! Das war einmal „normal“. Und eine Rückkehr hierzu wäre tatsächlich ein Schritt zurück zur „Normalität“.
In diesem Sinne: Alles Gute zum Neuen Jahr!