Man kann das Hirn als Behälter betrachten. Was enthält er? Nun, Neuronen und ihr Netz. Richtig. Und was enthält das Neuronennetz? Nun, Gedanken und Erinnerungen. Falsch. Schon sind wir einer irreführenden Metapher aufgesessen.
Die alte Metapher von Augustinus
Gewöhnlich bringen wir sie in Verbindung mit der cartesianischen Trennung von Res cogitans und Res extensa. Sie ist aber älter. Wir begegnen ihr schon bei Augustinus. In seinen „Bekenntnissen“ (10. Buch) spricht er von seiner Erinnerung als von den „weiten Hallen des Gedächtnisses, wo aufgehäuft sich finden die Schätze unzähliger Bilder von wahrgenommenen Dingen aller Art. Dort ist auch aufgehoben, was wir uns erdenken, Sinneseindrücke mehrend, mindernd oder irgendwie verändernd, und was sonst zur Aufbewahrung dort niedergelegt wird, soweit nicht Vergessenheit es verschlungen und begraben hat. Wenn ich dort weile und Befehl gebe, man soll mir etwas bringen, was ich haben will, ist einiges alsbald zur Stelle; anderes muss erst länger gesucht und gewissermassen aus verborgenen Schlupfwinkeln hervorgeholt werden; manches drängt haufenweise heran, und während man doch nach anderem sucht und fragt, springt es einem in den Weg, als sagte es: Sind wir’s vielleicht?“
Die Bedeutungsvielfalt von „Information“
Liest man diese Worte, kommt es einem vor, als beschriebe Augustinus exakt die Erfahrungen im heutigen Internet, mit seinen weiten elektronischen Hallen, wo wir Algorithmen Befehle geben und sie auf die Suche nach Information schicken. In der Tat ist die Lagerhaus-Metapher der zentrale Pfeiler der modernen empiristischen Theorien des Geistes, und sie dient heute vor allem auch den Computerwissenschaften als Vorlage für ihre Modelle der neuronalen Informationsverarbeitung: kodieren, speichern, abrufen. Seit über mehr als einem halben Jahrhundert lassen sich Psychologen, Linguisten, Neurowissenschafter und andere Verhaltensforscher von dieser Metapher leiten. Aber sie schafft eigentlich nur Probleme.
Das grösste Problem liegt darin, dass der Begriff der Information von einem bunten Bedeutungshof umgeben ist. Es gibt den mathematischen Begriff des Informationsquantums von Zeichenketten – des Bits – aus der Theorie der Kommunikation, den physikalischen Begriff der Entropie aus der klassischen Statistik, den quantenphysikalischen Begriff des Qubits, den biologischen Begriff des genetischen Codes, den Begriff der neurophysiologischen Signalübermittlung, um nur die hauptsächlichsten zu nennen. Für mein Argument konzentriere ich mich auf eine generische Unterscheidung: Information zu etwas, also ein Befehl, ein Rezept, ein Algorithmus; und Information über etwas, also eine Beschreibung, ein Bild, eine Repräsentation.
Das wirklich harte Problem
Beide Typen von Information begegnen uns im Alltag meist zusammen. Wenn auf der Armatur des Autos ein Signal rot aufleuchtet, dann ist das eine Information über den Zustand zum Beispiel der Batterie, und gleichzeitig ist dieses Signal die Instruktion zu einer entsprechenden Massnahme. Der Unterschied ist für uns verstehende Menschen kein Problem. Komplizierter wird die Situation für rein physikalische oder physiologische Systeme, wie den Wahrnehmungsapparat. Das Rotlicht setzt in meinem Nervensystem eine ganze Kaskade von Informationsübermittlungen in Gang, von der Transformation eines elektromagnetischen Signals in ein elektrophysiologisches, über das Ausschütten von Neurotransmittern, Ionenflüssen zwischen Neuronen, Aktivitäten im Cortex, bis zum Bewusstwerden, dass die Batterie leer ist.
Einige Ausschnitte in dieser Kette der Informationsübermittlung sind bekannt, andere bleiben nach wie vor mysteriös. Aber immer handelt es sich – sofern man vom Wahrnehmungsapparat allein spricht – um Information im biologischen Medium: The medium is the message. Nirgendwo in diesem Medium wird etwas „verstanden“, das heisst „inhaltliche“, semantische Information weitergeleitet, nur prozedurale: instruierende, im Sinne von Wirkungen auslösende. Das wirklich harte Problem ist, wie aus rein prozeduraler Informationsverarbeitung auf physiologischer Ebene irgendwann eine semantische Information wird, eine Botschaft mit Inhalt.
Artfefakte können zum Geist gehören
Dieses Problem ist nicht gelöst – wenn es überhaupt lösbar ist. Das muss nicht als resignativer Bescheid interpretiert werden. Betrachten wir noch einmal Augustinus’ Beispiel, die mentale Aktivität des Erinnerns. Schon das Wort suggeriert ein „Inneres“, in dem Informationen gesammelt, gespeichert, abgerufen werden. Aber was ist das anderes als eine metaphorische Internalisierung von etwas, das sich „draussen“ abspielt? Sich an etwas zu erinnern, meint eine aktive, weltbezogene, die ganze Person einbeziehende Leistung.
Ein Alzheimer-Kranker kann Defizite seines organischen Gedächtnisses mit dem künstlichen Gedächtnis eines Notizbuches wettmachen. Das Notizbuch wird zu einem externen Zusatzorgan des Gehirns. Die Philosophen Andy Clark und Dave Chalmers haben deshalb ein sogenanntes „Paritätsprinzip“ vorgeschlagen: Wenn ein Artefakt eine Operation durchführt oder eine Funktion erfüllt, die wir als geistig bezeichnen würden, fände sie in unserem Kopf statt, dann ist das Artefakt Teil des menschlichen Geistes. Das Notizbuch gehört zum Geist des Alzheimer-Kranken. Es ist ein ausgedehntes „Inneres“. Das Notizbuch wegzunehmen, kann gleiche Auswirkungen haben wie eine Ektomie am Hirn.
Das Medium des Geistes ist ein kulturelles
Das eigentliche Medium des Erinnerns – des Geistes generell – ist ein soziales und kulturelles. Die „Inhalte“, auf die wir zurückgreifen, liegen nicht in Archiven in unserem individuellen Innern gelagert, sie sind vielmehr Ausdruck unserer Teilnahme an sozialen Praktiken wie Gespräch, Debatte, Ritual, Spiel. Wir „wohnen“ diesen Praktiken quasi „ein“. Selbstverständlich brauchen wir ein entwickeltes und gesundes Gehirn, um solche kulturelle Techniken entstehen zu lassen und zu verfeinern. Im Zusammenhang mit dem Erinnern sei vor allem eine Technik hervorgehoben: das Erzählen. Erzählen ist das Medium der Erinnerung schlechthin. Dieses Vermögen beruht sicher auch auf biologisch vererbten Strukturen, auf Mechanismen der Wahrnehmung und neuronalen Speicherung, aber im Endeffekt wächst es aus dem Beherrschen einer spezifischen diskursiven – oralen und literalen – Kunst.
Der schädliche Metaphernmissbrauch
Die altehrwürdige Frage, wie geistiger Inhalt ins Gehirn kommt, könnte also irreführend formuliert sein und so den Weg zu einer Antwort verstellen. Möglicherweise fällt es uns wie Schuppen von den Augen: Es kommt gar kein Inhalt in den Schädel, weil im Schädel kein Platz für solcherlei Inhalt ist. Weil, wenn wir von „Inhalt“, „Bedeutung“, „Geist“ sprechen, wir uns schon immer in einer anderen, zur Neurophysiologie orthogonalen Ebene bewegen. Weil wir Wesen sind, die dank ihrer neurophysiologischen Struktur auf eine Weise miteinander verkehren, die Geist entstehen lässt.
Natürlich spielt Informationsverarbeitung auf der neurophysiologischen Ebene eine eminente Rolle, nur sollten wir uns im Klaren sein, dass wir hier in einer anderen Bedeutung von Information sprechen als zum Beispiel dann, wenn wir sagen, ein Brief oder ein Buch enthielte Information. Der Schlüssel liegt im unscheinbaren Wort „enthalten“. Oft kann ein kleiner Bedeutungsunterschied eine dramatische Differenz im Verstehen ausmachen, und ich behaupte nicht mehr und nicht weniger, als dass dies im Falle des Hirns und seines „Inhalts“ so ist.
Neue Zusammenarbeit von Kultur- und Naturwissenschaften
Wir leben im Zeitalter der Information. Informationsverarbeitung ist seine übermächtige Metapher. Der Psychologe Robert Epstein schrieb kürzlich einen Essay mit dem alles sagenden Titel „The empty brain“: „Wir werden mit Sinneswahrnehmungen, Reflexen und Lernmechanismen geboren, (...) nicht mit Daten, Regeln, Repräsentationen, Algorithmen, Modellen, Speichern, Prozessoren, Codierern und Decodierern.“ Das ist ein Idiom, das sich hervorragend eignet für Computer, nicht für Gehirne. Was nicht aussschliesst, gewisse Prozesse metaphorisch so zu beschreiben, als ob sie sich computerartig abspielten. Aber wer behauptet, Gehirne seien nichts als Computer, treibt Metaphernmissbrauch.
Deshalb ist es eine wichtige Aufgabe, die Ambivalenzen des Informationsbegriffs zum Vorschein zu bringen, um quasi wie durch einen Ruck der Erkenntnis unseren Blick neu zu kalibrieren. Und hier müssen die Geisteswissenschaften auf den Plan treten. Pointiert gesagt: Sie sollten ihren Status als Wissenschaften des Geistes ausdrücklicher und mutiger den mit hegemonialem Anspruch auftretenden Computerwissenschaften entgegenhalten. Und deshalb trägt die Aussage, das Hirn beinhalte nichts, eine hoffnungsvolle Botschaft. Nämlich die der Geburtsstunde einer neuen und fruchtbaren Zusammenarbeit von kultur- und naturwissenschaftlichen Disziplinen.