Geist und Körper gehören zusammen. Das erscheint, wenn man nicht gerade Philosoph ist, trivial. Philosophen dagegen suchen immer wieder das Geistige und das Körperliche als zwei ontologische Reiche zu etablieren, und sie zerbrechen ihre Köpfe über deren Zusammenhang. Sie tun das, worin Philosophen geübt sind: Sie machen aus einer Trivialität ein Rätsel, sie sprechen dann mit grosser Andacht vom „Geist-Körper-Problem“, zeitgemässer vom „hard problem“.
Heute, da sich die Neurowissenschafter recht gebieterisch zum kompetenten Wort melden, spricht man auch gern vom „Geist-Gehirn-Problem“, damit andeutend, dass unsere Geistigkeit sich vor allem diesem Organ im Kopf verdankt. Das reizt mich nun allerdings, den Geist einmal von einer Seite her anzuvisieren, die Sie fürs Erste vielleicht etwas die Nase rümpfen lässt: von seiner Hinterseite her.
Die Rodin-Position
Ich gehe dabei aus von Rodins berühmter Skulptur des Denkers. Kürzlich fragte ich mich, ob dieser bronzene Ausbund von Muskelmasse auch über das Geist-Körper-Problem nachdenke. Rodin selber bemerkte ja über ihn: „Mein Denker denkt nicht nur mit seinem Hirn, seinen geweiteten Nasenflügeln und seinen zusammengekniffenen Lippen, sondern mit jedem Muskel seiner Arme und Beine, seines Rückens, mit seiner geballten Faust und seinen zugreifenden Zehen.“
Einen Körperteil erwähnt Rodin freilich nicht: den Hintern. Was eigentlich verwundert, denn der Denker sitzt ja auf demselben und hängt schwer seinen Gedanken nach. Zufälligerweise fiel mir ein wissenschaftlicher Artikel in der Zeitschrift „Fortschritte der Medizin“ auf, mit dem Titel „Der Denker kackt besser“. Darin wird behauptet, dass die Rodin’sche Denkerposition – der „anorektale Winkel“ – bei Entleerungsstörungen und Verstopfung helfe. Daraus sollte man, nebenbei bemerkt, nicht den Umkehrschluss ziehen: Der Kacker denkt besser.
Aber es ist nicht unplausibel, dass die sich oft hinziehende Anstrengung der Defäkation dem Denken förderlich sein kann. Die Toilette ist erstens ein von der öffentlichen Betriebsamkeit abgeschiedenes störungsfreies Örtchen. Zweitens könnten sich Denk- und Darmdruck gegenseitig verstärken und womöglich geistige Blockaden lösen. Karikaturisten haben das Motiv auch schon entdeckt: Rodins Denker auf dem Klo.
Flucht vor dem Körper
Man mag das witzig oder geschmacklos finden. Aber die Hinterseite des Geistes provoziert eine Frage: Wenn der Geist sich aus dem Körper entwickelt, dann gehört zu diesem Körper nicht nur das Gehirn, sondern buchstäblich „alles“. Warum eigentlich dieser privilegierte Status des Geistes vor dem Körper?
Seit Platon zeichnen die Philosophen unser leibliches Sein als eine Einkerkerung und das geistige Sein als eine Befreiung. Cyberenthusiasten schwärmen heute von einer körperlosen, ins Netz geladenenen Existenzweise. In gewissem Sinne stellen alle modernen technologischen Projekte körperflüchtige Horizonte in Aussicht: Weg von der Müllhalde Erde! Weg vom Fleisch mit Verfallsdatum! Weg vom Kerker Sterblichkeit! In der Raumfahrt verlassen wir unsere erdgebundenen, in der Robotik und Computertechnologie unsere körpergebundenen Lebensbedingungen, in der Genetik unsere biologische Gewachsenheit.
Derartige Transzendenzverheissungen strahlen umso heller, je düsterer sie unsere Erdgebundenheit, Körperlichkeit, Vergänglichkeit als etwas Schlechtes, etwas „Gefallenes“ hinstellen. Wenn also die neuesten technologischen Visionen uralte Menschheitsträume einer verbesserten Condition humaine wecken, dann manifestieren sie insgeheim immer auch eine versteckte Verachtung dieser menschlichen Befindlichkeit.
Luther auf der „Cloaca“
Selbstverständlich hängt auch das Geistliche mit dem Körperlichen zusammen. Wie könnte es anders sein. Die christliche Tradition ist ja im Grunde eine einzige Auseinandersetzung mit unserer Leiblichkeit. Vom Kirchenvater Augustinus stammt der bekannte Satz „inter faeces et urinam nascimur“ – wir werden zwischen Fäkalien und Urin geboren.
Einer der grossen Theologen, Martin Luther, ist berüchtigt für das unzimperliche Verhältnis zu seinem intestinalen Leben, zumal für seine Fäkalsprache. Er litt sein Leben lang an Verstopfung und verbrachte wohl auch viele kontemplative „Sitzungen“ auf der „Cloaca“. In einem seiner letzten Briefe an seine Frau preist er Hopfenbier als Abführmittel und vermeldet mit Befriedigung „drei Bewegungen im Gedärm“ am Morgen.
2004 gruben Archäologen die Latrine auf Luthers Grundstück in Wittenberg aus. Sie ist jetzt eine Attraktion. Der Leiter der Stiftung Luthergedenkstätten, Stefan Rhein, zweifelt nicht daran, dass hier der Geburtsort der Reformation liegt: „Luther sagte immer, er habe seine reformatische Entdeckung auf der Kloake gemacht.“ So gesehen könnte man auch das berühmte Wort „Hier stehe ich und kann nicht anders“ interpretieren als „Hier sitze ich und kann nichts anderes tun“. Der reformatorische Geist aus dem Schliessmuskel sozusagen.
Sinn und Gestank
Der Verdauungstrakt entpuppt sich als tiefes philosophisches Rätsel. Er hat zwei Enden, Mund und Anus. Im Roman „Murphy“ bezeichnet Samuel Beckett mit seinem typischen Charme den Mund als „Anus des Gesichts“ – geradezu die Erkennnungsmetapher unserer Bullshit-Ära. Nach einer Schätzung soll der eine Mund im Lauf eines durchschnittlichen menschlichen Lebens etwa eine halbe Milliarde Wörter entlassen, der andere Mund um die zehn Tonnen „Materie“.
Hier entdecken wir zudem ein Missverhältnis. Wir können die Entfernung zwischen den beiden Öffnungen messen. Aber sie entspricht natürlich nicht der „Entfernung“ zwischen Geist und Körper. Der semantische Output am einen Ende könnte sich nicht fundamentaler vom materiellen Output am anderen Ende unterscheiden. Und doch gehören beide zu uns. Der Verdauungstrakt verbindet Geist und Körper. Die warme Luft am oberen Ende lädt sich mit Sinn auf, die warme Luft am unteren mit Gestank.
Körperliches Ich und vergeistigter Körper
Ich erhebe nicht den Anspruch, aus der Perspektive der Hinterseite das Geist-Körper-Problem zu lösen. Der Verdauungstrakt bietet sich einfach als Metapher des Problems an. Unser Geist ist immer schon verkörpert in dem Sinne, dass das „Ich denke“ ein körperliches Ich voraussetzt; und unser Körper ist immer schon vergeistigt in dem Sinne, dass nahezu alle unsere sozialen Körperaktivitäten mit Bedeutung aufgeladen sind.
Ich wage allerdings die Behauptung, dass wir zur Lösung nicht allzu sehr auf die Neurowissenschaften abstellen sollten. Sie haben zwar enorme Fortschritte in der Erkenntnis von Gehirnzusammenhängen gemacht, sind aber in der Erkenntnis des Geist-Körper-Zusammenhangs keinen Schritt vorwärtsgekommen. Wahrscheinlich deshalb, weil dieses Problem kein neurowissenschaftliches, sondern ein philosophisches ist.
Wie gesagt: Die meisten philosophischen Probleme entstehen aus Trivialitäten, und sie lösen sich, wenn man lange genug über ihnen in der Rodin-Position „gesessen“ hat, wieder in Trivialitäten auf. Man könnte dies auch als den Trost der Philosophie bezeichnen.