Die niederländische Stadt Utrecht gehört zu einer Kette bevölkerungsreicher niederländischer Metropolen wie Amsterdam, Den Haag und Rotterdam, die eine weite grüne Fläche ummanteln. Hierfür hat sich der Begriff Randstad eingebürgert. Und wie in vielen anderen niederländischen Siedlungen wird auch in Utrecht der lauschige Kern mit seinen historischen Bauten von kompakten Neubauquartieren eingekreist. Die moderne Architektur inszeniert sich gegenwärtig um den Bahnhof. Aber das bedeutendste Juwel liegt recht verborgen an der Peripherie. Es ist das 1924 errichtete Rietveld-Schröder-Haus, das seit 2000 zum Unesco-Weltkulturerbe zählt.
Wer es besuchen möchte, ahmt die Niederländer nach und mietet ein Zweirad. Gemächlich radelt man auf den vom Autoverkehr abgetrennten Spuren den geschlossenen Häuserzeilen entlang. Das vorherrschende Baumaterial ist dunkler Klinker; Flachdächer sucht man vergebens. Umso grösser ist die Überraschung, wenn am Ende der Häuserzeile an der Prins Hendriklaan plötzlich ein Kopfbau auftaucht, der sich in allem von den Nachbargebäuden unterscheidet. Es ist ein Kubus, zusammengesetzt aus unterschiedlichen Platten, die teilweise gegeneinander versetzt sind. Aus den weissen, hell- und dunkelgrauen Flächen leuchten feine gelbe und rote Stäbe heraus.
Geplant hat das Haus der niederländische Architekt Gerrit Rietveld zusammen mit Truus Schröder, die nach dem Tode ihres Mannes im Jahre 1923 eine neue Bleibe suchte. Rietveld hatte an ihrem früheren Wohnort ihr Zimmer eingerichtet. Als es darum ging, ein neues Wohnhaus zu realisieren, beauftragte Truus Schröder Rietveld mit der Planung, und daraus entstand nach mehreren Etappen nicht nur ein unkonventionelles Gebäude, sondern auch eine wachsende Zuneigung zwischen Bauherrin und Architekt. Rietveld hatte eine Zeit lang sein Atelier im Erdgeschoss des Hauses. Nach dem Hinscheiden seiner Frau im Jahre 1957 wohnte er die letzten Jahre sieben Jahre seines Lebens zusammen mit Truus Schröder. Nach ihrem Ableben im Jahre 1985 wurde das Monument samt Inventar übernommen vom Centraal Museum, das seither für die Erhaltung verantwortlich ist und die Besucherströme kanalisiert.
Eine Inkunabel von De Stijl
Rietveld war ursprünglich Möbelschreiner und betrieb eine kleine Werkstatt, die gelegentlich auch Wohnräume umgestaltete. Das Rietveld-Schröder-Haus ist im Werkverzeichnis von Rietveld das erste architektonische Werk, dem zahlreiche weitere folgten. Doch keines wurde auch nur annähernd so bekannt. Es war nicht nur ein Vorzeigeobjekt der frühen Moderne, sondern passte ideal zur Bewegung De Stijl, die unter der Führung von Piet Mondrian und anderen die geometrische Reinheit in Bildern, Möbeln und Gebäuden sowie die Beschränkung der Farbpalette auf Schwarz, Weiss und die drei Primärfarben forderte.
Es ist unklar, ob Rietveld sich selber zur De-Stijl-Bewegung zugehörig fühlte, aber er muss geahnt haben, dass sein Erstlingswerk alle Zutaten hatte, um als Inkunabel von De Stijl zu dienen. Dazu passt auch, dass er sein berühmtestes Möbel, den Rot-Blauen Stuhl, erst 1923 in den nun vertrauten Farben bemalte, somit zu einer Zeit, als er mit den Entwürfen für das Rietveld-Schröder-Haus begann.
Truus Schröder hielt sich zurück, wenn es darum ging, ihren Anteil am Zustandekommen des Hauses zu bestimmen. Zu Unrecht! Aus heutiger Warte ist es nicht vermessen, sie als gleichwertige Partnerin bei der Erarbeitung des gesamten Entwurfes zu nennen. Gewiss stammen die ersten Zeichnungen von Rietveld. Doch Truus Schröder verwarf sie, und danach erfolgte jeder Planungsschritt in einem intensiven permanenten Austausch.
Eigentlich handelt es sich um ein ausgesprochen bescheidenes Haus, aber Rietveld und Schröder sprengten die Enge durch grosse Fenster, die sich ganz öffnen lassen. Zudem können die Räume im Obergeschoss durch das Öffnen der Schiebetüren miteinander verbunden werden. Für die Inneneinrichtung konnte Rietveld auf seine Erfahrung als Möbelschreiner zurückgreifen. Es fehlt kaum ein Stück aus seiner Kollektion.
Ein Sessel zum Selberbauen
Ursprünglich hatte Schröder eine ungestörte Sicht auf die Polderlandschaft. Später wurde vor dem Haus ein Damm für eine Ringstrasse gebaut. Dahinter erwarb Schröder ein grosses Grundstück, für das Rietveld 1931 einen dreigeschossigen Riegel mit vier und 1935 einen weiteren mit drei Wohnungen entwarf. Und nur wenige hundert Meter entfernt kann man ein weiteres frühes Haus von Rietveld aufsuchen, ein mit einem Muster versehenes Kleinsthaus mit Garage und einer Wohnung für den Chauffeur.
Schliesslich darf man einen Besuch im Centraal Museum nicht verpassen, da hier die wichtigsten Möbel von Rietveld ausgestellt sind, darunter natürlich der Rot-Blaue Stuhl, der heute von der italienischen Firma Cassina vertrieben wird. Für ein Exemplar muss man tief in die Tasche greifen. Wer den Aufwand nicht scheut, kann den Stuhl auch selber herstellen.
Rietveld belegte seine Werke nicht mit einem Copyright, im Gegenteil, er veröffentlichte sämtliche Konstruktionspläne, die heute in einer Schrift mit dem Titel «How to construct RIETVELD FURNITURE» erworben werden können. Es sei verraten, dass die Verbindungen zwischen den aus dem Lot gekippten dünnen Bretter für die Sitzfläche und die Rückenlehne unklar bleiben. So gibt es im Internet denn auch verschiedene Vorschläge. Cassina setzt sogar Metallwinkel ein.
Wer den Eindruck hat, das Sitzmöbel müsse unbequem sein – kein Geringerer als Otl Aicher äusserte sich sehr abschätzig über den Rot-Blauen Stuhl –, dem sei aus persönlicher Erfahrung versichert, dass dem nicht so ist. Ich würde sogar behaupten, dass es keinen perfekteren Sessel für eine stundenlange Lektüre gibt.
Für den Besuch des Rietveld-Schröder-Hauses ist eine Voranmeldung zwingend. Es werden pro Führung maximal zwölf Personen zugelassen, die eine Stunde mit einem Audiophon durch die einzelnen Räume geleitet werden. Weitere Informationen erhält man unter: https://www.rietveldschroderhuis.nl/en