Das jüngste Schulmassaker in Uvalde (Texas) dürfte aller Voraussicht nach nicht das letzte bleiben. Denn solange Amerikas rechte Politiker sich weigern, die nationale Waffenlobby zu schwächen und die laxen Schusswaffengesetze zu verschärfen, ist das Morden an Kindern nicht zu stoppen. Nur mit schönen Worten und symbolischen Gesten schon gar nicht.
Der Begriff «school shooting» gibt nur vage wieder, was am Dienstagvormittag in einer Primarschule der texanischen Kleinstadt Uvalde geschehen ist: Ein 18-Jähriger in schusssicherer Weste, mit legal gekauften Sturmgewehren bewaffnet, erschoss 19 Kinder und zwei Erwachsene, bevor ein Grenzpolizist ihn tötete. Ehrlicher wäre es, sagte eine Expertin auf CNN, von «school killings» oder «school murders» zu sprechen: von gezielten Tötungen oder kaltblütigen Morden.
Sie habe es satt, argumentierte die frühere Offizielle des «Department of Homeland Security», solche Ereignisse stets sprachlich verharmlost zu sehen, und rede deshalb Klartext. Sie schilderte, was grosskalibrige Kugeln aus einem Sturmgewehr laut Chirurgen in einem Kinderkörper anrichten («Es ist wie eine Explosion») und erinnerte an die Eltern, die nach Schulmassakern die zerfetzen Körper ihrer Kinder identifizieren müssen («eine unvorstellbare Erfahrung»).
Derweil lief in Amerika das nach solchen Taten übliche Ritual ab: eine eindringliche Rede des Präsidenten an die Nation, Fahnen vor staatlichen Gebäuden auf Halbmast, betroffene Kommentare und Leitartikel in den Medien, heuchlerische Beileidsbekundungen von Politikern an die Adresse betroffener Eltern und Gemeinschaften. Wobei es jeweils, meist aus den Reihen der Republikaner, dieselben Volksvertreter sind, die sich gegen die überfällige Verschärfung der nationalen Waffengesetzgebung stemmen.
Vor zehn Jahren, nachdem in der Sandy Hook Elementary School in Newtown (Connecticut) ein 20-Jähriger 20 Kinder und sechs Erwachsene ermordet hatte, oder vor vier Jahren, als ein 19-Jähriger in der Marjorie Stoneman Douglas Highschool in Parkland (Florida) 14 Schüler und drei Erwachsene getötet hatte, war es nicht anders. Allem Entsetzen und allem Unglauben zum Trotz passierte danach jeweils genau nichts: «Only in America». Neuseeland dagegen hatte 2019 nach dem Massaker in zwei Moscheen in Christchurch mit 51 Toten seine Waffengesetzte drastisch verschärft.
Amerika, sagte im Kongress der demokratische Senator Chris Murphy (Connecticut) sichtlich bewegt, sei das einzige Land weltweit, wo Schülerinnen und Schüler am Morgen nicht wüssten, ob sie am Mittag noch lebend nach Hause kämen: «Unsere Kinder leben in Angst». Der «Washington Post» zufolge sind seit dem Massaker an der Columbine High School in Littleton (Colorado), wo 1999 zwei Schüler zwölf Jugendliche und einen Lehrer erschossen, insgesamt 311’000 Kinder an 331 Schulen von Massakern betroffen gewesen.
Doch in Amerika passiert nichts unter dem Hinweis auf den zweiten Verfassungszusatz (Second Amendment), der es verbietet, das Recht auf den Besitz und das Tragen von Waffen einzuschränken, ein Recht, welches das mehrheitlich konservative Oberste Gericht in Washington D. C. wiederholt bekräftigt hat und in einem Fall aus dem Staat New York demnächst wohl erneut tun wird. Das erlauchte Gremium dürfte ein staatliches Gesetz für ungültig erklären, welche das verborgene Tragen von Waffen in der Öffentlichkeit verbietet. Und in Amerika geschieht nichts aus Furcht vor Repressalien der «National Rifle Association» (NRA), der übermächtigen Waffenlobby, ohne deren Segen eine Mehrheit republikanischer Politiker im Kongress nicht anzutreten wagen.
Noch diese Woche trifft sich die NRA ausgerechnet in Texas zu ihrer Jahresversammlung. Als Redner bei der Sause in Houston mit dabei: Ex-Präsident Donald Trump, der Gouverneur von Texas, Greg Abbott, und der einheimische Senator Ted Cruz, alle drei eingefleischte Bannerträger der Waffenlobby. Aufrufe, nach Uvalde den viertägigen Anlass abzusagen, dürften ungehört verhallen: «The show must go on.»
Texas und sein Gouverneur pflegen sich zu brüsten, in ihrem Staat mit über einer Million Schusswaffen würden verantwortungsvolle Waffenbesitzer leben. Schusswaffen, so die verquere Logik, würden die Nation und ihre Bürgerinnen und Bürger sicherer machen: «Nicht Waffen töten Menschen, Menschen töten Menschen.» Erst im vergangenen Jahr hat Texas per Gesetz beschlossen, dass zum Tragen einer Handfeuerwaffe keine Erlaubnis mehr nötig ist, was es über 21-Jährigen erlaubt, jederzeit und ohne Hindernisse Waffen zu kaufen und zu tragen.
Gemäss der unabhängigen NGO «Small Arms Survey» zirkulieren in den USA heute rund 400 Millionen Schusswaffen. Gleichzeitig ist die Waffenproduktion von 3,9 Millionen im Jahr 2000 auf 11,3 Millionen im Jahr 2020 gestiegen. Nicht eingerechnet sind sogenannte «ghost guns», d. h. Schusswaffen, die privat hergestellt werden und nicht nachzuverfolgen sind. Der für Schusswaffen zuständigen Bundesbehörde (ATF) zufolge hat sich die Zahl solcher Geisterwaffen seit 2016 verzehnfacht. Gleichzeitig hat Amerika noch vor zwei Jahren vier Millionen Schusswaffen importiert – auch das ein Rekord. Laut der Bundesbehörde «Centers for Disease Control and Prevention» (CDC) sind allein 2020 in den USA 45’222 Menschen an den Folgen von Schusswaffenverletzungen gestorben. Doch selbst die Publikation solcher Statistiken hat die NRA zu verhinden versucht.
Nicht zu vergessen am Ende, was Schulmassaker wie jenes in Uvalde bei Angehörigen von Opfern früherer Amokläufe jeweils auslösen. In einem Fernsehinterview auf MSNBC liess ein Vater, dessen 15-jährige Tochter vor vier Jahren in Parkland erschossen worden war, seinem Zorn gegenüber Politikern, die nichts unternehmen, freien Lauf: «Am liebsten würde ich ihnen sagen, sie sollen sich alle verpissen für das, was sie getan haben, was sie immer noch tun. Die Art und Weise, wie sie Schusswaffen und Gewalt politisieren, hat diesen Tag ermöglicht.» Diese Leute hätten versagt, fuhr Fred Guttenberg fort: «Sie haben verdammt nochmal unsere Kinder einmal mehr im Stich gelassen, okay? Ich bin fertig. Ich habe genug. Wie viele Male noch?»