Die Matur ist ein Führerschein zum akademischen Denken. Die aktuellen ökonomischen Bestrebungen machen sie kaputt.
Journal21.ch will die Jungen vermehrt zu Wort kommen lassen. In der Rubrik „Jugend schreibt“ nehmen Schülerinnen und Schüler des Zürcher Realgymnasiums Rämibühl regelmässig Stellung zu aktuellen Themen.
Jonathan Clivio wurde im Jahr 1999 geboren und erlangte diesen Sommer die Matur am Realgymnasium Rämibühl in Zürich. Er interessiert sich für Politik, Theater und Mathematik. Er erreichte bei „Jugend debattiert“ die Regional-Halbfinals und gewann im Känguru-Mathematikwettbewerb den dritten Platz der Deutschschweiz.
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Jetzt strömen sie wieder zurück aus den Sommerferien und in die Schulen. Einige von ihnen strömen ins Gymnasium und streben nach der Matur. Ich selbst gehörte die letzten sechs Jahre auch zu diesen Strebenden: Erst vor wenigen Wochen habe ich als Abschluss der Gymi-Zeit das Maturzeugnis erhalten. Eine kurze Rückschau ist deshalb durchaus angebracht.
Der Bildungsökonom Stefan Wolter sagt, dass es sich nicht lohne, den Umweg über die Kantonsschule zu machen, wenn man nicht zwingend für einen konkreten Berufswunsch studieren müsse. Das mag vielleicht ökonomisch sein, entspricht aber in keinster Weise meinen unmittelbar zurückliegenden Erfahrungen. Viele meiner Mitabsolventen und ich haben noch kaum eine Ahnung, was unsere konkreten Berufe sein werden. Ich weiss zwar, was ich studieren will, mehr jedoch noch nicht. Und das ist nicht per se schlecht: Es ist eine Entlastung, dass ich weder mit elf noch jetzt wissen muss, was denn aus mir genau werden soll.
Doch wer geht überhaupt ans Gymi? Sind das auch diejenigen, die ans Gymi gehören? Oft wird die Gymiprüfung als der Gipfel der ungerechten Filtermethoden angeprangert. Das ist sie nicht. Bedenklicher ist die Tatsache, dass in jeder Etappe unseres noblen Bildungssystems Kinder und Jugendliche mit reichen, gebildeten oder muttersprachlich Deutsch sprechenden Eltern bevorteilt werden. Das ist ein Übel, mit dem ich viel mehr Mühe habe als mit der Gymiprüfung an sich. Damit scheine ich jedoch Teil einer Minderheit in der Schweizer Gesellschaft zu sein, die bei der fairen Behandlung von Kindern liberaler bleiben will als beim Rauchen in der Beiz. Denn dass vor allem die Marktkräfte beim Nachhilfesystem walten, ist für viele zentraler für eine liberale Gesellschaft als effektive Chancengleichheit. Erneut taucht ein ökonomischer Gedanke an einem Ort im Bildungssystem auf, wo er sehr giftig ist.
Doch nicht nur das: Bei gut zwei Dritteln meiner bewerteten Leistungen im Gymi handelte es sich um schriftliche Prüfungen. Doch schriftliche Prüfungen sind ein miserables Mittel, um Leistungen zu bewerten. Eine Prüfung ist eine Momentaufnahme einer Lektion. Ein schlechter Tag kann somit ein ganzes Semester solider Arbeit in Frage stellen. Und aus Schülersicht bedeuten Prüfungen die Hauptquelle von Stress im Schulalltag. Diese stressende Vorbereitung führt jedoch nicht zu einer Verbesserung des Verständnisses. Ganz im Gegenteil ist es dank schriftlicher Prüfungen möglich Bestnoten zu erzielen, ohne sich je aktiv am Unterricht zu beteiligen. Die Methode zum Erfolg heisst Bulimie-Lernen: den Stoff vor der Prüfung schnell in sich hineinstopfen und dann punktgenau auf die Prüfung kotzen. Analog zur gleichnamigen Essstörung hat es den Effekt, dass am Ende nichts längerfristig hängen bleibt.
Nach diesen Klagen, Erfahrungen und Bildern aus dem Innern des Gymis will ich jetzt doch noch den Blick von aussen darauf richten. Wozu braucht die Welt Maturanden? Was ist die Aufgabe des Gymnasiums? Wenn das Gymnasium nicht für klar definierte Berufe ausbildet, die es in der Wirtschaft braucht, was tut es dann?
Bildung und Wissen haben sich in Zeiten von Google drastisch verändert. Wissen abrufen kann jeder, doch etwas damit anfangen nicht. Wer das kann, den braucht die Welt. Eine Welt, die sich in schwindelerregender Geschwindigkeit verändert. Die gymnasiale Ausbildung ist keine Ausbildung für einen klar definierten Beruf, der in den nächsten zwei Jahrzehnten komplett automatisiert oder zumindest total auf den Kopf gestellt wird. Eine Matur ist ein Führerschein zum akademischen Denken. Oder so sollte es zumindest sein.
Die Idee, dass nur, was quantifizierbar ist, etwas wert ist, hat nun leider auch das Gymnasium befallen. Das führt zu Auswüchsen wie die oben beschriebene Vernarrtheit in schriftliche Prüfungen. Es führt dazu, dass Freifächer und alles, was nicht von Unis oder der Wirtschaft direkt be- und verwertet werden kann, gestrichen wird. Es führt dazu, dass im Lehrplan 21 Hunderte von pseudo-konkreten Kompetenzen definiert werden, die erlangt werden müssen. Der aufklärerische Anspruch der Bildung als Selbstzweck wird dadurch verhökert. Obwohl dieser Grundwert alles andere als überholt ist, muss man ihn zeitgemäss überdenken. Heutiges Wissen ist komplexer als während der Aufklärung, als Universalgelehrte wie Rousseau die Wissenschaft dominierten. Wissen heute ist spezifischer. Auf der anderen Seite sind Vernetzungen viel zentraler als Fakten. Bildung ist nicht mehr ein Zustand, sondern mehr denn je ein Prozess. Und dieser Prozess lässt sich nicht in Kompetenzkatalogen mit Multiple-Choice-Antworten einteilen, und er wird einem auch nicht durch endlose farbige Powerpoint-Präsentationen erspart. Das Gymi ist der Raum für diesen Prozess, der sich eben nicht quantifizieren lässt, aber doch – genau deshalb – so wertvoll ist.
Schon Goethe sagt in Faust: Es irrt der Mensch, solang er strebt. Heute braucht es mehr Zeit und Raum fürs Irren und Streben denn je – als Gegendruck zur gesellschaftlichen Fehlentwicklung – und als Verweigerung einer Anpassung an sie.
Doch anstatt sich mutig auf diese Debatte einzulassen, spart man sich das Hinterfragen und kürzt das Bildungsbudget. Und am Schluss purzelt ein Abschlussjahrgang heraus, der zwar den ganzen Frühling in der Zentralbibliothek verbrachte und auch weiss, wie man einen Five-Paragraph-Essay strukturiert, den Frau Huber mit einer guten Note würdigt, und wie man eine Physikprüfung schreibt, die mit Herrn Zgraggens Formelbüchlein akzeptabel wird. Aber das mit dem Selber- Denken hapert noch ziemlich. Für den eigenen Weg gibt es im Gymi schon fast keine Pluspunkte mehr, darum hat man den auch nicht gefunden. Und wenn dann all diese schlauen Köpfe nach Südostasien fliegen müssen, um sich in einem Zwischenjahr selbst zu finden, ist das nicht nur äusserst bedauerlich, sondern auch noch unökonomisch.
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Verantwortlich für die Betreuung der jungen Journalistinnen und Journalisten von „Jugend-schreibt“ ist der Deutsch- und Englischlehrer Remo Federer ([email protected]).
Das Realgymnasium Rämibühl (RG, bis 1976 Realgymnasium Zürichberg) ist ein Langzeitgymnasium. Es ist neben dem Literargymnasium die einzige öffentliche Schule des Kantons Zürich, die einen zweisprachigen Bildungsgang in Verbindung mit dem International Baccalaureate anbietet, wobei die Fächer Geographie, Biologie und Mathematik auf Englisch unterrichtet werden. Zu den berühmten Schülern gehören Max Frisch und Elias Canetti.
Weitere Informationen finden sich auf der Homepage www.rgzh.ch