Als Chefkommentator der «Washington Post» war Fred Hiatt einer der einflussreichsten Journalisten Amerikas. Ausserhalb seiner Zunft aber war er kaum bekannt.
Die «Washington Post» kennt berühmte Journalisten zur Genüge. Ben Bradlee zum Beispiel war Chefredaktor des Blatts, als die beiden Reporter Bob Woodward und Carl Bernstein den Watergate-Skandal aufdeckten, der 1974 Präsident Richard Nixon zum Rücktritt zwang. Hollywood setzte dem Trio von der «Post» im Film «All the President’s Men» ein Denkmal.
Auch Chefredaktor Marty Baron, von Amazon-Gründer Jeff Bezos 2013 angeheuert, gelangte dank eines Films zu nationaler Berühmtheit. Der Streifen «Spotlight» zeichnete nach, wie er in seiner früheren Position als Redaktionsleiter des «Boston Globe» einen Missbrauchsskandal innerhalb der katholischen Kirche publik machte. Baron brachte die «Post» dank grosszügiger Investitionen in die Redaktion und den Digitalbereich auf die Erfolgsstrasse zurück.
Die ältesten Regeln des Metiers
Fred Hiatt, der Anfang vergangener Woche im Alter von 66 Jahren an einem Herzversagen gestorben ist, suchte das Rampenlicht nicht. Anders als viele seiner Journalistenkollegen mied er lukrative Fernsehauftritte, weil er überzeugt war, der Bildschirm eigne sich als Ort nicht, um nuanciert argumentieren zu können. Auch wollte er sich nicht verzetteln, sondern sich auf seine Aufgabe als Chef der Editorial Page der «Washington Post» konzentrieren, jener Seite der Zeitung, auf der getrennt und unabhängig vom Nachrichtenteil Leitartikel und Kommentare erscheinen.
In dieser Funktion ging ihm mehr als zwei Jahrzehnte lang eine ausgewogene Sicht der Dinge über alles. «Ich sagte, dass Fred manchmal altmodisch war», erinnert sich Donald Graham aus der früheren Besitzerfamilie der «Post», der Hiatt auf den Chefposten berufen hatte. «Er glaubte an die ältesten Regeln des Journalismus: Genauigkeit, Fairness, Respekt für andere Meinungen». Seit 75 Jahren, so Graham, würden über dem Impressum der Meinungsseite drei Worte stehen: «Eine unabhängige Zeitung». Fred Hiatt habe diese Unabhängigkeit auf eine Art verkörpert, wie sie in Washington DC nur selten zu finden sei.
Smart und nett
Er habe, schreibt Don Graham in seiner Würdigung, Untergebene Hiatts gefragt, wie sie ihren verstorbenen Chef einschätzten. «Absolute Verpflichtung gegenüber einer Reihe von Idealen», sei eine der Antworten gewesen. «Das beste Einschätzungsvermögen, dem ich je begegnet bin», habe eine andere Reaktion gelautet. Oder: «Es gibt viele Leute, die smart sind: es gibt weniger Leute, die mit allen Menschen reden können. Fred war so smart wie irgendjemand, den ich kenne, und netter.»
Als Fred Hiatt im Jahr 2000 sein Amt auf der Redaktion antrat, beschäftigte die Editorial Page der «Washington Post» rund ein Dutzend Journalistinnen und Journalisten. Heute arbeiten dank seiner Förderung über 80 Leute für die Meinungsseite der Zeitung: nicht nur jüngere Kommentatorinnen und Kommentatoren diverser Couleur, sondern auch Karikaturisten, Videographen, Blogger und Designer. Während seiner Zeit schrieb oder redigierte Hiatt pro Jahr mehr als 1’000 Leitartikel und redigierte zudem Kolumnen auf der «op-ed»-Page, jener Seite, die der Meinungsseite gegenüber liegt und auf der auch Fremdmeinungen publiziert werden.
Ein Rückgrat aus Stahl
«Mit Fred an der Spitze waren wir uns stets unseres Erbes in Sachen aufgeklärter redaktioneller Richtlinien bewusst, welche die ‘Post’ sowohl zu einem Leuchtturm punkto Bürgerfreiheiten, Bürgerrechte und Meinungsfreiheit gemacht haben als auch zu einem bissigen Wachhund, der die Macht der Regierung – egal ob im Kongress, im Weissen Haus oder in der City Hall – hinterfragte, um sicherzustellen, dass Politiker und Beamte nicht vom Weg abwichen, den die Verfassung vorgibt», sagt Hiatts Stellvertreter, der Kolumnist und Pulitzerpreisträger Colbert I. King.
«Nach aussen hin eine sanfte Seele, aber mit einem Rückgrat aus Stahl, scheute Fred nie davor zurück, unsere Sicht öffentlicher Angelegenheiten, einschliesslich Korruption und Ungerechtigkeiten, offen zu legen», erinnert sich King: «Die Strafen dafür, sich unbeliebt zu machen, haben ihn nie davon abgehalten, zu sagen, was gesagt werden musste, und das, wenn nötig, mit aller moralischer Empörung, die wir aufbringen konnten.»
Für den Krieg im Irak
So geriet etwa die Volksrepublik China wegen ihrer Missachtung von Menschenrechten wiederholt in Hiatts Visier. In Amerika selbst setzte er sich unter anderem für das Recht auf Abtreibung, die Reform der Wahlkampffinanzierung, den Ausbau des Gesundheitswesens und die Verschärfung der Waffengesetzgebung ein.
In liberalen Kreisen unbeliebt machte sich Fred Hiatt 2003, als er für einen Krieg der USA im Irak plädierte, wofür ihm die neokonservativen Falken im Lande Beifall spendeten. Es war eine Fehleinschätzung, die er Jahre später gründlich hinterfragte. Es sei ihm damals, argumentierte er, um eine starke Landesverteidigung und um ein Amerika gegangen, «das sich mit Bedacht auf der Welt engagiert». Kritiker hingegen monierten, er habe die «Washington Post» in ein Megafon für unbelehrbare Kriegerintellektuelle verwandelt.
Schon früh gegen Trump
Richtig dagegen lag Fred Hiatt im Fall von Donald Trump, den er und sein Editorial Board vor der Präsidentenwahl 2016 persönlich trafen und für das höchste Amt im Staate als völlig ungeeignet einstuften: «Mr. Trumps Politik des Niedermachens und des Spaltens könnte jene Bande strapazieren, die bisher eine diverse Nation zusammengehalten haben. Seine Verachtung verfassungsmässiger Normen könnte verraten, dass das 200 Jahre alte System der ‘Checks and Balances’ fragiler ist als angenommen …» Donald Trump zu wählen, so Hiatt, würde bedeuten, dieses System zu bedrohen: «Mr. Trump ist eine einzigartige und aktuelle Gefahr.»
Kein Pardon kannte Fred Hiatt auch gegenüber Saudi-Arabien, nachdem dessen Agenten am 2. Oktober 2018 den Journalisten Jamal Kashoggi ins saudische Konsulat in Istanbul gelockt und dort grausam ermordet hatten. Nur ein Jahr zuvor hatte Kashoggi eine Kolumne für die «Washington Post» zu schreiben begonnen. Zwei Tage nach seiner Ermordung blieb ein Teil der Meinungsseite der «Post» leer über dem Hinweis: «Kashoggis Worte hätten auf obigem Platz oben erscheinen sollen …»
Ein globales Forum für Dissidente
In der Folge erschienen in der «Post» Dutzende kritischer Leitartikel und Kolumnen, welche die Schuld für den Mord am unbequemen Journalisten dem saudische Kronprinzen Mohammed bin Salman und dem Weissen Haus in die Schuhe schoben, das tatenlos blieb. Zum selben Urteil gelangte im Februar dieses Jahres auch ein Geheimdienstbericht der Regierung unter Joe Biden. Hiatt etablierte im Namen Jamal Kashoggis ein Journalistenstipendium und räumte Dissidenten aus der arabischen Welt und anderen Regionen, die in ihren Heimatländern nicht mehr schreiben durften, unter der Rubrik «Global Opinion» eine Plattform ein.
Fred Hiatt hatte auch Aung San Suu Kyi in Myanmar unterstützt, als sie noch eine Freiheitskämpferin war. Als sie dann aber Jahre später als Regierungschefin ihres Landes eine mörderische Militärkampagne gegen die muslimische Minderheit der Rohingya nicht stoppte, verurteilte er die Politikerin aufs Schärfste, so wie er es nach dem Krieg im Irak gegenüber den USA im Falle der Folter von Häftlingen in Abu Ghraib oder in Guantánamo Bay getan hatte.
Erfahrung als Auslandkorrespondent
Fred Hiatt, Sohn eines Mediziners und einer Bibliothekarin, hatte seine journalistische Karriere 1981 bei der «Post» als Regionalkorrespondent in Fairfax County (Virginia) begonnen, bevor er 1987 zusammen mit seiner Frau Margaret Shapiro als Auslandkorrespondent nach Tokyo und 1991 nach Moskau wechselte. Ein Korrespondentenkollege beschrieb ihn damals als «überwältigend belesen» und als jemanden, mit dem man sich gleich gut «über Japan, die Washington Nationals (das lokale Baseball-Team), die Strategie der US-Nationalbank und Beethoven» unterhalten konnte.
Als Fred Hiatt zur Jahrtausendwende sein Amt als Chef der Editorial Page der «Washington Post» antrat, tat er das als Protégé der legendären Meg Greenfield, deren Posten er übernahm. Von Greenfield stammt jenes hübsche Aperçu, das sich alle Journalistinnen und Journalisten hinter die Ohren schreiben sollten: «In jedem Leitartikler steckt ein kleiner Mussolini. Pompös, streitsüchtig, eine Witzfigur ausser in den eigenen Augen …, die grandiose Empfehlungen abgibt, die aber überhaupt nichts bewirken … und auf die eine undankbare Nation mit ‘Oh, hör’ doch auf!’ reagiert.»