Die Corona-Massnahmen waren demokratisch abgestützt und breit akzeptiert. – Eine Entgegnung auf Helmut Scheben
Zu den ärgerlichen Stereotypen bei den Gegnern der Corona-Massnahmen gehört die Behauptung, sie seien durchwegs als Idioten und Ähnliches abgestempelt worden und man habe sich mit ihrer Sichtweise nie ernsthaft auseinandergesetzt. Natürlich gab es auf beiden Seiten des sozialen Corona-Grabens Eiferer, die mit ihren Äusserungen weit unter dem blieben, was man eine Diskussion nennen könnte. Trotzdem fand die relativ kleine Minorität der harten Massnahmengegner ein beträchtliches Echo. Die Medien rapportierten geradezu beflissen nicht nur die grossen, sondern auch die sehr überschaubaren Aufmärsche. Kommentare unterschiedlichster Observanz wurden publiziert. Und zeigten sich irgendwo Anzeichen medialer Obrigkeitsfrömmigkeit, wurden sie – wiederum öffentlich – energisch zurechtgewiesen.
Allerdings gingen die Behauptungen der Corona-Gegner nicht unkritisiert durch. Was angesichts der vielfach hanebüchenen Thesen auch nötig war. Es stimmt eben nicht, dass die mRNA-Impfungen das Erbgut verändern; es trifft nicht zu, dass durch die schnelle Entwicklung und Freigabe der Impfstoffe deren Sicherheit vernachlässigt wurde; es ist auch nicht wahr, dass SARS-CoV-2 nicht gefährlicher sei als die üblichen saisonalen Grippeviren. Nicht besser steht es mit den Behauptungen, es habe keine Übersterblichkeit gegeben, die Schutzmassnahmen seien eh alle wirkungslos und die Spitäler nie überlastet gewesen.
Helmut Scheben stellt sich auf den Standpunkt, es sei nicht Sache des Staats, die Covid-Pandemie einzudämmen. Es sei vielmehr dem Einzelnen zu überlassen, ob er sich schützen wolle – so wie es ein individueller Entscheid sei, mit Alkohol Mass zu halten. Der Staat, so diese Position, habe mit seiner Corona-Politik ein Zwangsregime errichtet, das Demokratie und Grundrechte missachtet habe.
Dazu ist zunächst festzuhalten, dass dieses «Zwangsregime» demokratisch-rechtsstaatlich sauber abgestützt war. Das Volk hat die Massnahmen in zwei Referenden mit klaren Mehrheiten gutgeheissen. Noch grösser war gemäss Umfagen die generelle Zustimmung zur bundesrätlichen Corona-Politik.
Gewisse Grundrechte wurden in der Tat temporär eingeschränkt. Die Massnahmenkritiker haben dies als unzulässigen Übergriff des Staates angeprangert. Es gab sogar Parlamentarierinnen und Parlamentarier, die sich den lautstarken Protesten anbiederten und und im Ratssaal von Diktatur schwafelten. Hätten die diversen selbsterklärten Verfassungsfreunde die Verfassung auch mal gelesen, so wären sie darauf gestossen, dass diese ganz unterschiedliche Grundrechte kennt. Diese müssen, da sie zueinander in Spannung geraten können, in der Gesetzgebung nach dem Prinzip der Verhältnismässigkeit realisiert werden.
Im Brustton der Überzeugung zu postulieren, Grundrechte gälten absolut und seien nicht verhandelbar, verkennt den besonderen Charakter von Grundrechten. Diese sind zwar verbindlich, aber in der Rechtspraxis nicht unmittelbar anwendbar. Vielmehr müssen sie unter Abwägung möglicherweise konkurrierender Rechtsgüter umgesetzt werden. Ein solcher Konflikt besteht zwischen Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit auf der einen und Schutz der körperlichen Unversehrtheit (sprich: Schutz vor Ansteckung und Überlastung des Gesundheitssystems) auf der anderen Seite.
Die Treicheln schwingenden Rebellen meinten dieses Dilemma vom Tisch wischen zu können, indem sie Ansteckungsgefahren in den Wind schlugen, Corona verharmlosten und vor dem Risiko eines Kollapses der Spitäler die Augen verschlossen. Fakten, die ihnen hätten zu denken geben müssen, taten sie als Lügen der Mainstream-Medien ab.
Nun sind die meisten Massnahmen aufgehoben, und die noch verbliebenen haben ein Ablaufdatum. Trotzdem wird weiter demonstriert (mit Bewilligung, wie es ja für Diktaturen typisch ist). Die Massnahmengegner wollen den Druck aufrechterhalten und den Staat grundsätzlich aus der Pandemievorsorge hinausdrängen.
Obschon auch ich kein Befürworter eines Nanny-Staates bin, der uns auf Schritt und Tritt sagt, wie wir zu leben haben, halte ich diese prinzipielle Absage an eine Fürsorgepflicht des Staats in gesundheitlichen Belangen für keine gute Idee. Krankheiten sind nun mal, wenn sie pandemisch auftreten, keine bloss individuellen, sondern eben auch soziale und damit auch politische Angelegenheiten.
Mit dieser Gegebenheit nüchtern zu rechnen, hat nichts mit Hysterie und Panikmache oder gar mit Todesverdrängung zu tun. Es ist einfach verantwortliche, vorausschauende Politik. Eine Disziplin übrigens, in der die Schweiz ruhig noch ein bisschen zulegen darf.