In seinem soeben erschienenen Buch über «Erbauer und Zerstörer Europas im 20. Jahrhundert» ist Ian Kershaw dem Charisma politischer Führer auf der Spur. Geschichtsmächtige Personen haben ihre jeweils ganz spezifische Zeit – und sie können zu Getriebenen werden.
Das Buch hat zwölf Kapitel. Sie beginnen mit Wladimir Iljitsch Lenin und enden mit Helmut Kohl. Dazu kommen eine Einleitung und eine Schlussbetrachtung. Darin umkreist Ian Kershaw die Frage, ob die Geschichte nicht auch ohne die herausragenden Personen ähnlich verlaufen wäre. Er kommt zu dem Schluss: «Die hier behandelten Persönlichkeiten waren nicht austauschbar. Andere hätten eine andere – möglicherweise grundlegend andere – Geschichte bewirkt.»
Personen oder Strukturen?
Für einen Historiker verbinden sich mit einer solchen Feststellung methodische Schwierigkeiten, auf die Kershaw in seinem Einleitungskapitel eingeht. Soll Geschichte aus dem Handeln herausragender Personen heraus verstanden werden, oder sind diese Personen im Grunde nur Exponenten von Strukturen und Entwicklungen, die sich unabhängig von ihnen herausbilden? In der Geschichtswissenschaft gab es um diese Frage heftige Auseinandersetzungen, und es haben sich unterschiedliche Schulen herausgebildet.
Kershaw selbst hat in seinen grundlegenden Werken über die europäischen Kriege von 1914 bis 1945 und über die Nachkriegszeit gezeigt, wie souverän er kulturelle und wirtschaftliche Entwicklungen, Zeitströmungen und die darin handelnden Personen analysieren und darstellen kann. Insofern verbindet sich mit seinem neuen Buch die Frage, was er denn darüber hinaus noch zum Ausdruck bringen will. In einigen Kapiteln gibt er eine überzeugende Antwort, in anderen nicht.
Terror als Prinzip
Der Auftakt mit Lenin überzeugt. Denn es gelingt Ian Kershaw herauszuarbeiten, wie Lenin es schaffte, von seiner Nebenrolle als vergleichsweise unbekannter Theoretiker der Revolution zur unangreifbaren Autorität der Bolschewisten aufzusteigen. In den Jahren seines mehr oder weniger abgeschiedenen Grübelns hat Lenin die Konzepte und Parolen entwickelt, die in dem Augenblick, als der grosse Umsturz in Russland erfolgte, wie ein Schlüssel ins Schloss passten. Und Kershaw zeigt, dass der Terror das grundlegende Element in Lenins Theorie und Praxis ist. Lenin hat die kommunistische Revolution vom Terror her gedacht. Nur durch den Terror konnten die «Klassenfeinde» beseitigt und die eigenen Anhänger absolut gefügig gemacht werden. – Zeitweilig war es in linken Kreisen Mode, in Lenin den vergleichsweise feinsinnigen Vordenker der Revolution zu sehen, der dann durch sein Nachfolger vergröbert wurde. Kershaw beseitigt diese Illusion.
Kershaw stützt sich in seinen Ausführungen über Lenin ausschliesslich auf Sekundärliteratur. Trotzdem gelingt ihm ein anschauliches und packendes Kapitel. Bei Stalin aber macht sich diese Beschränkung störend bemerkbar. Denn dieses Kapitel wirkt hölzern und allzu summarisch. Es genügt nicht, in einem Nebensatz darauf hinzuweisen, dass Lenin am Ende seines Lebens vor Stalin gewarnt hat, weil der ein engstirniger Apparatschik war. In dem Kapitel fehlt die Würze der Einschätzungen seiner Mitstreiter und Gegner wie zum Beispiel von Leo Trotzki. Der hat sich wiederholt in einigen Büchern unnachahmlich über Stalin mokiert und ist über ihn hergezogen.
Überdruss und Rachsucht
Im Kapitel über Benito Mussolini stellt Kershaw wieder den Terror ins Zentrum: «Darauf läuft der Faschismus hinaus: auf die völlige Zerstörung der alten politischen und sozialen Ordnung und das utopische Versprechen einer neuen Gesellschaft, angetrieben vom Glauben an die nationale Wiedergeburt und eine ruhmreiche Zukunft. Gewalt war dabei ein zentrales Element.» Eindrücklich beschreibt Kershaw, wie zermürbt die italienische Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg im Zeichen der politischen Unfähigkeit war, das Land zu reformieren. Mussolini trat mit seinen Schwarzhemden wie eine Ordnungsmacht auf, die gerade von den Grossgrundbesitzern und dem gehobenen Bürgertum gerne gesehen wurde. Zudem weckte er mit seinen Parolen einen Nationalstolz, der im Zuge des Krieges und im Zeichen der korrupten Eliten verloren gegangen war. In Mussolini bündelten sich Überdruss und Rachsucht wie in keinem anderen.
Das Kapitel über Hitler wiederum enttäuscht um so mehr, als Kershaw sich mit seiner früheren zweibändigen Hitler-Biografie hohe Anerkennung erworben hat. Aber jetzt erfährt man dort nichts, was nicht in neuerer Zeit von anderen Autoren plastischer dargestellt worden wäre. Um so überzeugender sind ihm seine Studien zu Winston Churchill und Charles de Gaulle gelungen. Beide mussten sich auf blosse Überzeugungskraft stützen und beide hatten ein Zeitfenster, das sie im rechten Moment aufstossen konnten und das sich danach wieder schloss. Und beide waren Persönlichkeiten mit überragenden Qualitäten und eklatanten Schwächen, wobei sie ohne diese Defizite niemals die grosse Wirkung hätten erzielen können, die sie weltgeschichtlich herausragend machen sollte.
Intransigenz und Rettung
Von Churchill hiess es aus seiner engeren Umgebung, er sei zwar mit zahlreichen Begabungen reich gesegnet, aber ihm fehlten Weisheit und Urteilskraft. Und er wurde für die Katastrophe der Schlacht um Gallipoli im Ersten Weltkrieg verantwortlich gemacht, was ihn damals sein Amt als «Erster Lord der Admiralität» kostete. Als er sich aber gegen die Appeasement-Politik von Neville Chamberlain stellte, wendete sich das Blatt und er wurde Premierminister. Gegen Hitler setzte er alles auf eine Karte. Wäre Lord Halifax, sein Aussenminister, an seiner Stelle Premierminister geworden, hätte dieser, wie Kershaw sorgfältig darlegt, mit seiner grösseren Umsicht einen irgendwie gearteten Ausgleich mit Hitler gesucht, was letzten Endes aber eine Niederlage Grossbritanniens bedeutet und dem Zweiten Weltkrieg und damit der Weltgeschichte eine ganz andere Wendung gegeben hätte. Gerade die Intransigenz Churchills führte zur Rettung vor Hitler.
Ähnlich Charles de Gaulle. Er galt als unnahbar, als arrogant und geradezu besessen von seiner Mission als Retter Frankreichs, als den er sich schon in frühester Jugend sah. Wäre er aber aus einem anderen Holz geschnitzt gewesen, hätte er es trotz seiner unbändigen Energie nicht geschafft, in einer aussichtslosen Lage Frankreich gegenüber den Alliierten zu vertreten, den Widerstand zu organisieren und das Land nach dem Sieg zu einen.
Die Chance Helmut Kohls
In der zweiten Hälfte des Buches ragen die Beiträge zu Michael Gorbatschow und Helmut Kohl heraus. Gorbatschows Aufstieg zum Generalsekretär der KPdSU verlief zunächst in vorgezeichneten Bahnen, bis er erkannte, dass tiefgreifende Reformen notwendig waren. Andernfalls wäre die Sowjetunion aufgrund der exorbitanten Rüstungsausgaben, der Ineffizienz der staatlich geleiteten Betriebe und der Undurchsichtigkeit der Verwaltung kollabiert. Zu Hilfe kam ihm auf internationaler Bühne sein persönliches Charisma, das insbesondere Margaret Thatcher, George W. Bush und nicht zuletzt Helmut Kohl beeindruckte. Aber Kershaw beschreibt auch, wie Gorbatschow mehr und mehr zum Getriebenen wurde, der am Ende von seinen Landsleuten nur noch Verachtung erfuhr.
Gorbatschow war ebenso wie Helmut Kohl nur während einer vergleichsweise kleinen Zeitspanne ein «Geschichtsmacher». Kohl wäre, wenn seine Amtszeit vor 1989 ihr Ende gefunden hätte, als mittelmässiger Kanzler in die Geschichtsbücher eingegangen. Aber er besass die Gabe, früher als andere die Chance zu erahnen, die sich mit der Auflösung des Ostblocks und dem Enthusiasmus der Ostdeutschen für die Wiedervereinigung bot und diese dann auch gegen Widerstände im Westen durchzusetzen.
Zu den Stärken dieses Buches gehört, dass Ian Kershaw auch im Schlusskapitel keine einheitliche Theorie von geschichtsmächtiger Führung vorlegt. Sein Resümee bleibt allgemein: «Jede der hier behandelten Führungspersonen legte sowohl vor als auch nach ihrer Machtergreifung eine aussergewöhnliche Zielstrebigkeit an den Tag.» Aber dieser Satz verdeckt mehr, als er erklärt. So war Margaret Thatcher, der Kershaw ebenfalls ein Kapitel gewidmet hat, ganz sicher zielstrebig. Aber dass sie das Risiko des Falkland-Krieges einging, was ihr weitaus mehr Popularität einbrachte als ihre rigorose Wirtschaftspolitik, lässt sich nicht allein mit «Zielstrebigkeit» erklären. Da gibt es vieles zu erzählen. Auch deswegen lohnt es sich, Ian Kershaw zu lesen.
Ian Kershaw: Der Mensch und die Macht. Über Erbauer und Zerstörer Europas im 20. Jahrhundert. Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt, 592 Seiten, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2022, ca. 36 Euro