Es ist alles empfindlich eingeschränkt. Feiern und Familienzusammenkünfte fallen dem Virus zum Opfer. Christnachtfeiern oder Heiligabend-Gottesdienste, die in normalen Jahren die Kirchen füllen, sind gestrichen oder zu einem ärmlichen Rest ihrer sonstigen Festlichkeit verkleinert. Keine strahlende Musik von Chören und Orchestern, keine gemeinsam gesungenen Weihnachtslieder. Es fehlt das verbindende Erlebnis des grossen dunklen Raums voller schweigender Menschen.
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Im Frühjahr hiess es noch, die Gesellschaft schränke sich aus Rücksicht auf vulnerable Personen ein. Im Unterton, wonach der Preis solcher Rücksicht für die Starken exorbitant und nicht lange zumutbar sei, meldete sich die Stimme eines kühlen Realismus. Viele wiesen solche Abwägungen zurück, während andere sie mit immer mehr Nachdruck einforderten.
Doch inzwischen haben die meisten begriffen, dass die medizinische Versorgung aller auf dem Spiel steht. Die jüngsten Alarmrufe aus den Spitälern wegen erschöpften Personals haben klargemacht, dass nichts anderes übrigbleibt als das Herunterfahren der Kontakte, wenn wir den Kollaps des Gesundheitswesens vermeiden wollen. Damit hat das Virus gewissermassen den Umweg gefunden, auf dem es nicht nur die bisher als vulnerabel Deklarierten, sondern alle vulnerabel macht.
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Ein solches Grundgefühl der Verletzlichkeit hat es zumindest in der saturierten Mitte unserer Gesellschaft seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben. Der Gedanke, dass Gesundheit, Geborgenheit, Wohlergehen, Respektabilität, Lebenszufriedenheit und das persönliche Sicherheitsgefühl schleichend oder schlagartig verlorengehen können, musste die meisten bis vor einem Jahr nicht beschäftigen.
Doch das Virus hat dieses Sicherheitsgefühl unterminiert. Bei den meisten sind die Einschläge allmählich nähergekommen: Eine wachsende Zahl von Menschen kann sich nicht mehr damit beruhigen, keine Betroffenen zu kennen. Und von denen, die es übel erwischt hat oder gar an Covid-19 gestorben sind, zählen beileibe nicht alle zu den Hochaltrigen oder Vorerkrankten.
Die Weihnachtserzählungen stehen vor einem geschichtlichen Hintergrund, der uns in seiner profunden Unsicherheit heute nicht gänzlich fremd erscheinen kann. Damals eine archaische Gesellschaft ohne Individualrechte und materielle Sicherungen; heute ein aufgeklärtes und soziales, aber an zahlreichen Fronten über seine Kräfte hinaus gefordertes Gemeinwesen. Damals eine römische Übermacht, welche die ganze bekannte Welt unterworfen hatte und der im Alltag niemand entkam; heute eine globale Pandemie, welche die politischen, wirtschaftlichen und lebenspraktischen Regeln diktiert.
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Zum Kreis der Weihnachtsgeschichten gehört die Flucht nach Ägypten. Aus Angst vor dem verheissenen neuen König habe Herodes in seinem Herrschaftsbereich, so die Legende, alle neugeborenen Knaben ermorden lassen. Um Jesus vor diesem Massaker in Sicherheit zu bringen, seien Josef und Maria mit dem Kind nach Ägypten geflohen. Mit dieser ganz knapp erzählten Emigration und der nachherigen Rückkehr verknüpft das Matthäusevangelium die Geburt des Messias mit dem für das Judentum konstitutiven, im Alten Testament erzählten Exodus aus der ägyptischen Gefangenschaft.
Die heilige Familie auf der Flucht ist dasjenige Weihnachtsmotiv, das die Grundstimmung der Gefährdung, ja der existentiellen Unsicherheit am stärksten ausdrückt. Pieter Bruegel der Ältere hat es auf einer kleinformatigen Tafel als Miniatur am unteren Bildrand dargestellt. Josef führt den Esel, auf dem Maria, in einen roten Mantel gehüllt, mit dem Kind reitet. Die Gegend ist menschenleer und wild. Was für heutige Augen als romantische Szenerie wirken könnte, ist in der damaligen Sicht ein schrecklicher Unort. Schroffe Felsen und weglose Wälder sind für sie nicht pittoresk, sondern bedeuten Gefahr.
In Pieter Bruegels kleinem Bild steckt die Botschaft des Weihnachtsevangeliums. Für ihn als Menschen des 16. Jahrhunderts bedurfte nicht etwa die Menschwerdung Gottes in diesem Jesuskind einer besonderen Hervorhebung. Das war der gegebene Grund, überhaupt eine Weihnachtsgeschichte zu malen. Was Bruegel besonders ins Licht rücken wollte, war die Unwirtlichkeit und Gefährlichkeit dieser Welt, in die Gott eingetreten ist. Der Künstler thematisiert das verletzliche, ungeschützte Dasein der Menschen, das nun in diesem Jesus von Gott geteilt wird.
In der Inkarnation verbindet das Göttliche sich mit dem Diesseits. Die ungeschützte sterbliche Existenz ist nicht eine Vorform des «eigentlichen» Lebens; sie ist vielmehr «the real thing», das, worauf es ankommt und worum es geht. Der rote Mantel mit seiner Königsfarbe ist das Signal dafür: Der fundamental gefährdete Mensch ist Gottes Gegenüber.
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Verletzlichkeit ist nicht Mangel oder Betriebsunfall, sondern Kennzeichen menschlicher Existenz. Weihnachten ist die kühne Erzählung darüber: Gott als neugeborenes Kind in einem unsicheren Land verkörpert die Wahrheit des menschlichen Seins. Das Menschliche ist bestimmt als ein «Sein zum Tode» (Heidegger), was mehr meint als die blosse Tatsache der Sterblichkeit, nämlich die das Leben prägende Condition humaine. Dem «Sein zum Tode» unterliegt der Mensch nicht nur in seinem Elend und seiner Niedertracht, sondern er entkommt ihm auch nicht in der Güte, Grösse und Schönheit, derer er fähig ist.
Was die biblischen Erzählungen auseinanderlegen als Reihe von Geschehnissen zwischen Himmel und Erde, können wir als Angehörige eines nachmetaphysischen Zeitalters in eins zu fassen versuchen. Die Weihnachtsmythen lesen sich dann als schlichte Schilderungen komplexer Wahrheiten: Das Jenseits löst sich im Diesseits auf wie Salz in Wasser, Gott kommt als Tiefendimension des Menschlichen in Sicht, und die schmerzliche Endlichkeit des Lebens macht dessen unbedingten Wert aus.
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Corona, um wieder auf den Störenfried zurückzukommen, zählt als Virus zu den Treibern der Evolution. Viren haben das Leben hervorgebracht, sie haben es entwickelt und erhalten es. Viren zerstören und ermöglichen. Mit beidem sind sie notwendig für lebende Organismen. Nur in verletzlicher Form konnte Leben überhaupt entstehen und zu immer höheren Formen mutieren. Dass Sterblichkeit eine Existenzbedingung ist, stimmt deshalb auch aus evolutionsbiologischer Sicht und setzt unserem Dasein einen Rahmen, der weit vor unserer persönlichen Existenz liegt.
Zur persönlichen Erfahrung der Verletzlichkeit hat sich kürzlich Petra Raumsauer geäussert. Sie war als Kriegsberichterstatterin 22 Jahre lang an den Brandherden der Welt im Einsatz. In einem Interview zieht sie Bilanz und schaut vorwärts:
«Mich hat eine schwere Tumorerkrankung als junge Frau tief geprägt. Sie hat mir geholfen, die Wahrheit, dass ich sterben werde, zu akzeptieren. Das hat mein Restleben sehr zum Guten verändert. Deshalb plädiere ich dafür, sich der Tatsache, dass wir alle zerbrechliche Sterbliche sind, zu stellen. Wenn man zu viel Angst hat, wird man hektisch, verliert den Fokus, und es wird noch schlimmer. Und je früher wir uns mit der Tatsache anfreunden, dass wir zerbrechliche Sterbliche sind, umso schöner wird unser Leben – auch während Covid.»
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Es war die auf der Sterblichkeit allen Lebens beruhende Evolution, die auch den menschlichen Geist hervorgebracht und diesen irgendwann angetrieben hat, Viren zu erforschen und Impfstoffe zu entwickeln. Es sieht zurzeit so aus, als könnte die Wissenschaft SARS-CoV-2 in Schranken weisen. Die grundlegende Verletzlichkeit des Menschen jedoch wird bleiben. Seit der Erzählung von der Menschwerdung Gottes dürfen wir sie als Zeichen der Würde verstehen und uns in den königlichen roten Mantel hüllen, den Pieter Bruegel der Ältere den Bedrohten zugedacht hat.