Mehr noch: Sie legt zugleich ihr Parlamentsmandat nieder, zieht sich somit also ganz aus der Politik zurück. Aber auch beim Koalitionspartner CDU/CSU rumpelt es gewaltig. Dort sind Eruptionen ebenfalls nicht ausgeschlossen.
Die Ergebnisse der Europawahlen (und partiell Kommunalwahlen) am 26. Mai haben in Deutschland einen Sturm ausgelöst. CDU/CSU und – vor allem – die SPD wurden regelrecht abgewatscht, während die Grünen buchstäblich hinauf zu den Gipfelkreuzen gehievt worden sind. Doch jetzt, wenige Tage danach, könnte sich für die Innenpolitik aus dem Sturm ein Tornado entwickeln.
An diesem Sonntag (02.06.) beendete Andrea Nahles praktisch ihre politische Laufbahn. Einige der von der SPD-Chefin angekündigten Konsequenzen kamen, wenigstens für die am Tagesgeschehen Interessierten, gewiss nicht völlig überraschend. Sehr wohl aber, dass sie gleich sämtliche Brocken hinwirft. Nahles wird am Dienstag als Chefin der SPD-Bundestagsfraktion zurücktreten, später auch vom Posten der Parteivorsitzenden und zu guter Letzt auch noch ihr Bundestagsmandat niederlegen. Ganz nach dem Motto „Ich habe die Nase gestrichen voll, jetzt rutscht mir alle den Buckel runter“.
Das politische Geschäft ist brutal
Die Stühle, auf denen die Genossin aus der Eifel seit rund anderthalb Jahren sass (September 2017 Fraktionsvorsitzende, April 2018 Parteichefin), wackelten nicht erst seit gestern beträchtlich. Wenn es nicht gut läuft mit und in der Partei, wenn die Wähler anders entscheiden, als man es selbst verdient zu haben glaubt, wenn unter Umständen aus Koalitionszwängen heraus unangenehme Kompromisse geschlossen werden müssen – dann sind dies wahre Hochzeiten für Nörgler, Kritiker und (ganz schlimm) anonyme Heckenschützen. Dann wird schnell die Schuldfrage gestellt und natürlich auch beantwortet: Schuld an der Misere ist zuvorderst die Person an der Spitze. Das ist nicht nur bei den Sozialdemokraten so, aber dort hat man besonders viel Übung in dieser „Kunst“.
Das politische Geschäft ist brutal. Das hat zum Beispiel Kurt Beck erlebt. Der damalige rheinland-pfälzische Ministerpäsident wurde 2006 als Nachfolger seines aus gesundheitlichen Gründen zurückgetretenen brandenburgischen Kollegen Matthias Platzeck zum Parteivorsitzenden gewählt. Aber schon nach zwei Jahren schmiss er, ebenfalls unter ziemlich dramatischen Umständen, den Bettel wieder hin. Es ging um die Nominierung des SPD-Kanzlerkandidaten für die Wahl 2011, für die Beck als Parteichef eigentlich den ersten Zugriff gehabt hätte. Der Pfälzer hatte allerdings für sich schon Frank Walter Steinmeier, den heutigen Bundespräsidenten, als Favoriten auserkoren, wollte jedoch wenigstens gefragt werden. Doch die schon seit längerem unzufriedenen Parteigranden gingen bei der Steinmeier-Bestallung schlicht über ihren Vorsitzenden hinweg.
Hoffnung auf den Heilsbringer Schulz
Becks Nachfolger, der Niedersachse Siegmar Gabriel, war immerhin acht Jahre (2009–2017) SPD-Chef, gab danach aber ebenfalls ziemlich ausgebrannt auf. Und was mit Martin Schulz geschah, ist vermutlich noch manchem Zeitgenossen in guter Erinnerung. 2017 wurde der einstige Präsident des Europäischen Parlaments zum SPD-Vorsitzenden gewählt. Was heisst hier gewählt? Die Genossen jubelten den Mann aus dem Dreiländereck bei Aachen geradezu an die sozialdemokratische Spitze – mit dem sensationellen und bislang einmaligen Votum von 100 Prozent. Die Partei himmelte den bis dahin zwar auf der europäischen, nicht jedoch heimischen Politikebene bewanderten Schulz wie einen Heilsbringer an. Aber eben auch wieder nur kurz. Die SPD verlor, mit ihm als Spitzenmann, krachend die Bundestagswahl 2017. Und im Frühjahr 2018 war (sozusagen der Tradition folgend) bereits ein neuer Wechsel fällig – zu Andrea Nahles.
Es ist interessant, die „Nachrufe“ auf die scheidende Partei- und Fraktionschefin zu lesen – vor allem die aus dem eigenen Beritt. Nahezu in allen kommen die Vokabeln „Anerkennung“ und „Respekt“ vor. Nach dem Wort „Dank“ hingegen muss man regelrecht suchen. Auch darin spiegelt sich die Stimmung wider, die Andrea Nahles schon seit langem umwehte. Und dann auch noch die jüngste Wahlschlappe. Vereinfacht gesagt, wurde sie Opfer zweier von ihr selbst zu verantwortenden Strategien. Die erste war nach dem Debakel im Herbst 2017 ihr Einsatz für eine Fortsetzung der so genannten Grossen Koalition (GroKo) mit der CDU/CSU. Und dies ausgerechnet, nachdem ihr Vorgänger Martin Schulz noch am Wahlabend pathetisch ausgerufen hatte, nun sei Schluss mit diesem Regierungsbündnis.
Eine widerwillige Gefolgschaft
In Wirklichkeit, freilich, agierte die einstige Partei-Linke Nahles in dieser Angelegenheit ausgesprochen staatstragend. Denn nach der Verweigerung der FDP, an einer „Jamaika“-Koalition mit CDU/CSU und Grünen teilzunehmen, hätten Angela Merkel theoretisch nur die Linken oder die rechtsnationale Alternative für Deutschland (AfD) als Beschaffer einer Regierungsmehrheit zur Verfügung gestanden. Oder eine Staatskrise und irgendwann Neuwahlen mit höchst ungewissem Ausgang. In dieser Situation prügelte und schrie Andrea Nahles auf dem Bonner Parteitag ihre Genossen regelrecht in eine neue GroKo. Die Partei folgte ihr dann zwar – aber widerwillig, mit permanentem Protest und einer daraus erwachsenden zunehmenden Neigung, die eigenen Erfolge in der Berliner Koalition kleinzureden. Bei einer derartigen Gemengelage war es dann natürlich praktisch ein Ding der Unmöglichkeit, das Versprechen einzulösen, aus der Koalition heraus eine wirkliche Runderneuerung der SPD zu bewerkstelligen.
Der zweite strategische Fehler von Nahles bestand aus ihrem versuchten Befreiungsschlag. Natürlich war ihr nicht verborgen geblieben, was sich da seit Wochen schon an Unmut, Kritik und Zweifel an ihrer Person zusammenbraute. Logisch, nicht offen, sondern in Hintergrundgesprächen und mit Durchstechereien. Um diese Stimmen zu zwingen, Gesicht zu zeigen und in offener Feldschlacht die Gegnerschaft auszutragen, kündigte die Noch-Partei- und Fraktionsvorsitzende Mitte voriger Woche überraschend an, in einer Sondersitzung der SPD-Bundestagsabgeordneten an diesem Dienstag die Vertrauensfrage zu stellen. Freilich zeigte sich schon am Wochenende bei verschiedenen Treffen mit verschiedenen „Kreisen“, dass Andrea Nahles – wenn überhaupt – arg gerupft aus der Sondersitzung herausgehen würde. Was bei diesen Treffen an verbalen „Freundlichkeiten“ ausgetauscht wurde, kann man sich leicht vorstellen, wenn man den Ausspruch von Aussenminister Heiko Maas auf der Zunge zergehen lässt: „Ich frage mich, ob man sich auch Ähnliches getraut hätte, wenn dort ein Mann gesessen wäre.“
Es bietet sich niemand an
Und jetzt? Im Moment gleicht die einst so stolze und traditionsreiche SPD einem aufgeregten Hühnerhaufen. Wohin man auch schaut – nirgendwo bietet sich eine überzeugende Führungspersönlichkeit an. Zunächst soll, bis zum nächsten Parteitag, die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer das Zepter in die Hand nehmen. Doch das kann man sich wirklich nur als Übergangslösung vorstellen. Die 58-jährige Juristin ist zwar ausserordentlich tüchtig und zu Recht auch über Parteigrenzen hinweg beliebt, aber sie leidet an Multipler Sklerose und ist entsprechend körperlich eingeschränkt – wahrscheinlich zu sehr, um auch noch das strapaziöse Amt an der SPD-Spitze auszufüllen. Und ansonsten? Bisher hat sich noch keiner der Nahles-Kritiker aus der Deckung gewagt. Aber, um der Wahrheit die Ehre zu geben, es drängt sich auch niemand auf, um die Fussstapfen eines Kurt Schumacher, Willy Brandt, oder Helmut Schmidt auszufüllen.
Die Zeichen der Zeit verpasst?
Erleben wir gegenwärtig den schleichenden Selbstmord einer ehemals stolzen und grossen Partei? Einer SPD, die in den rund 150 Jahren ihres Bestehens sowohl im Kaiser- als auch im Hitlerreich unter der Knute der Herrschenden gelitten hat, die das Allgemeine Wahlrecht erfocht und die Arbeiterschaft aus der Ausbeutung befreite. Kann es sein, dass eine solche Partei mit einem Male leer gebrannt ist? Dass sich die nachgekommenen Generationen mit ihren veränderten Lebensplanungen auch nach neuen politischen Repräsentanten umsehen, weil die alten unter Umständen die Herausforderungen der Gegenwart nicht erkennen? Diese Fragen treiben ja nicht bloss die SPD um. Auch die Christdemokraten sind von diesen Fragen betroffen. Und es würde nicht sehr überraschen, wenn vielleicht schon in Kürze auch in der CDU ein heftiger Streit über Personen, Inhalte und Strategien ausbräche.