Wer heute cancelt, tut es in der Überzeugung, nun endlich den Spiess umzudrehen gegen die Unterdrücker und so für Gerechtigkeit zu sorgen. Doch was dabei herauskommt, ist nicht Gerechtigkeit, sondern Unfreiheit und erzwungene Konformität.
Im amerikanischen «Harper’s Magazine» erschien 2020 ein offener Brief, der zwar nicht explizit, aber doch implizit die Praktiken der Cancel Culture und ihrer Bedrohung der freien Debatte aufs Korn nahm. Unterzeichnet war der Brief von über 150 Autorinnen und Autoren, aus Journalismus, Kunst und Universität. Die afroamerikanische Journalistin Erin B. Logan nahm dies in einer Kolumne der «Los Angeles Times» zum Anlass, die Cancel Culture zu verteidigen.
Logan wies auf die mediale Misere vieler «journalists of color» hin, die auf Gedeih und Verderb von ihren Bossen abhängig oft infolge falscher Urteile und Entscheide vor die Tür gesetzt – gecancelt – worden seien. Nun würden sich die Rückwirkungen solcher Entscheide vermehrt in einer «neuen Normalität», manifestieren, in der «die mundtot Gemachten nicht mehr schweigen». Durch öffentliche Plattformen wie Twitter hätten «diese Marginalisierten das erste Mal die uneingeschränkte Möglichkeit, Institutionen zu widersprechen, die nur allzu lange als Türhüter eines akzeptierten Diskurses gewaltet haben (…). Diese Türhüter entscheiden darüber, was en vogue ist. Und wer nicht in Gleichschritt fällt, riskiert gecancelt zu werden».
«Despotismus der Wenigen»
Zweifellos liegt Frau Logan richtig mit der Diagnose akuter Ungerechtigkeiten, einer Diskursvorherrschaft von – wen wundert’s – weissen Cis-Männern. Von weitem winkt Monsieur Foucault. Ein Diskurs unterdrückt immer auch. Cancel Culture bedeutet so gesehen Aufstand der Unterdrückten gegen die Unterdrücker. Ihnen schleudert Frau Logan entgegen: Ihr seid selber schuld an unserer Radikalität! Ob nun zornige, woke Junge auf Twitter diese Dominanz brechen können – ausgerechnet jetzt, wo die oberste Etage des Unternehmens ausgewechselt wird – sei dahingestellt. Andere Dinge stehen auf dem Spiel: faire Kritik und geistige Freiheit. Canceln erklärt ihnen den Krieg.
Der amerikanische Publizist Jonathan Rauch hat in seinem lesenswerten Buch «The Constitution of Knowledge» (2021) das intellektuelle Klima amerikanischer Universitäten untersucht (Jetzt auf Deutsch. Jonathan Rauch: Die Verteidigung der Wahrheit. Stuttgart: S. Hirzel Verlag, 2022). Er nennt das Canceln den «Despotismus der Wenigen»: «Hier entsteht ein Rätsel. Die meisten Studenten wollen nicht aufs College gehen, um nur einen Standpunkt kennen zu lernen, und die meisten Professoren wollen ihren Unterricht nicht politisieren. Die meisten Wissenschafter haben den Grundsatz des intellektuellen Pluralismus nicht verabschiedet.»
Die Scheinmehrheit der Minderheit
Wie kommt es zu diesem Despotismus lautstarker, offensiver, nicht repräsentativer Minderheiten? Eine Meinung ist nie bloss jemandes Meinung. In meiner Meinung reden die Stimmen anderer mit. Ich befinde mich in einem sich ständig verändernden Meinungsumfeld. Minderheiten können das Meinungsumfeld auf eine Weise manipulieren, dass der Schein entsteht, es handle sich um einen Mainstream.
Das geschieht heute vor allem in sozialen Netzwerken, wo man ohnehin nicht sicher ist, ob die Meinungen von realen Personen oder Bots – also Pseudopersonen – stammen. Das Biotop des Cancelns ist die Anonymität. Der deutsche Journalist und Autor Michel Friedman äusserte sich jüngst in einem Interview zur AfD: «In Deutschland haben wir rund 15 Prozent AfD-Wähler. Dass die so laut tönen, dass man meint, es seien viel mehr, liegt nicht einfach nur daran, dass die so laut sind. Es liegt daran, dass die anderen 85 Prozent so leise sind. Müde, fett und eigentlich gelangweilt von der Demokratie.»
Die Medienforscherin Elisabeth Noelle-Neumann sprach vor fast fünfzig Jahren von einer Schweigespirale, einer selbstverstärkenden Schleife, in der sich die Minderheitsmeinung zu einer scheinbaren Mehrheitsmeinung hochschrauben kann. Sie tut dies ironischerweise unter Mitwirkung ihrer Opponenten, indem diese schweigen, zu zweifeln beginnen oder aus Opportunismus und sonstigen Gründen zur vermeintlich vorherrschenden Meinung «konvertieren». Ein pseudorepräsentativer Konsens etabliert sich so als «realer» Konsens. Hat sich eine solche Spirale erst einmal gebildet, helfen auch Fakten lange Zeit nicht, sie zu brechen – das Markenzeichen totalitärer Systeme. Die «Mehrheit» der Russen, die den Ukrainekrieg billigen, ist in einer Schweigespirale aus einer Bande von Kremlgünstlingen entstanden.
Klima der Unsicherheit
Canceln schafft ein Klima der Unsicherheit, des Unvorhersehbaren – das charakteristische Kriegsklima. In Umfragen hört man immer wieder, dass die Leute sich nicht mehr sicher sind, was sie sagen und wie sie etwas sagen können. Das gilt sogar für den universitären Campus, den klassischen Ort des freien Meinungsaustauschs. Jonathan Rauch fasst seine Umfrage unter Studenten und Professoren bündig zusammen: «Universitäten – speziell Eliteuniversitäten – werden zu Trichtern sozial erzwungener Konformität.»
Wirklich gespenstisch mutet an, dass diese Ungewissheit oft nicht einmal auf eigener Erfahrung, sondern auf einem allgegenwärtigen, imaginären Popanz namens «Korrektheit» beruht. Verlage beschäftigen Lektoren – «Sensitivity Readers» –, die in vorauseilender Schnüffelei «unwohl machende» Texte identifizieren. Wir bekommen es mit einer Neuauflage des McCarthyismus zu tun, nicht eines ideologischen, sondern viel fundamentaler: eines linguistischen, geistigen. Er erstickt die freie Meinungsäusserung durch die Angst vor dem Cancel-Scherbengericht.
Kritik und Canceln
Canceln ist nicht Kritik. Kritik ist ein agonales Spiel, setzt gewisse Argumentationsregeln voraus. Es gibt so etwas wie argumentatives Fairplay. Canceln akzeptiert dies nicht. Heben wir kurz ein paar wesentliche Unterschiede hervor:
- Kritik richtet sich gegen Meinungen, Canceln richtet sich gegen die Meinenden, indem sie sie beleidigt, beschämt, einschüchtert, lächerlich macht.
- Kritik ist ein zivilisierter Ersatz für soziale Gewalt. Sie eliminiert Ideen aus dem Diskurs. Canceln ist soziale Gewalt. Sie reduziert Personen auf ein paar einzelne Merkmale, Aussagen oder Handlungen, um entsprechend brutaler auf sie eindreschen und aus dem Diskurs eliminieren zu können. Schlimmstenfalls führt das zu physischer Auslöschung.
- Kritik stellt Ideen in einen Kontext, Canceln reisst sie aus dem Kontext, um sie zu missdeuten und zu verzerren.
- Kritik korrigiert Irrtümer, Canceln bestraft den «inkrimierten» Irrenden, zum Beispiel dadurch, dass man ihm Plattformen der Meinungsäusserung entzieht.
- Kritik versteht unter Meinungsfreiheit die Vielfalt der Perspektiven, die Auseinandersetzung mit abweichenden Meinungen, Canceln versteht darunter die Freiheit der eigenen und die Unfreiheit der anderen Meinung. Es verordnet Meinungseinfalt und führt zur Bildung von Meinungsblasen.
- Kritik sucht nach der Wahrheit, Canceln hat sie.
- Kritik vertraut kritisch ausgewiesenem Expertentum, Canceln beruft sich oft auf obskure YouTube-Autoritäten und Do-it-Yourself-Statistiken.
- Kritik sucht den Geist von Beschränkungen zu befreien. Canceln uniformiert den Geist mit Orthodoxie und Gleichrichtung.
Ein Benimm des Debattierens
Überdramatisiere ich? Es gibt Stimmen, die das Canceln für eine Bagatelle halten. Sofern damit gemeint ist, dass man minoritären Zeloten und Extremisten nicht über Gebühr Aufmerksamkeit schenken soll, kann man nur zustimmen. Aber es geht nicht bloss um diese Minoritäten, sondern um die Möglichkeit von Kritik. Sie steht und fällt mit der Freiheit, alles sagen zu können.
Die alten Griechen – genauer die Kyniker – nannten das «Parrhesia», Redefreiheit. Sie bedeutet nicht, dass man alles sagt. Es ist gut, dass man nicht alles sagt. Es gibt einen Benimm des Debattierens und Argumentierens. Ihn muss man lernen und üben und pflegen und stets wieder überprüfen. Ein solcher Benimm bildet so etwas wie einen Verfassungsrahmen geistiger Freiheit. Und diese Verfassung hütet Werte wie Wahrheit, Objektivität, Tatsachentreue, Schlüssigkeit. Wer den Rahmen nicht akzeptiert, lehnt geistige Freiheit ab, ebnet ihren Gegnern und Verächtern das Feld. Und deren gibt es beängstigend viele. Wann dämmert uns das endlich?