Ein Krieg ist auch heutzutage eine schmutzige Angelegenheit. Er findet in Städten und ohne Rücksichten auf Verluste statt. Wer für sich die Schuldfrage geklärt hat und sicher zu sein meint, wer die Guten und wer die Bösen sind, hat damit keine grossen Probleme. Wer die ukrainischen Machthaber im Recht sieht, nimmt tote Zivilisten und Zerstörung als unvermeidbar hin. Wer die Separatisten unterstützt, ebenfalls.
Der gute Zweck und die böse Tat
Die Geschichte der Menschheit ist voll von Grausamkeiten, Schlachtereien und abgründig bösen Taten. Kaum jemals wurde offen zugegeben, dass sie aus Mordgier, Profitstreben, Machtgelüsten oder imperialen Träumen erfolgten. Und da die Geschichte immer von den Siegern geschrieben wird, hat eigentlich ausnahmslos das Gute gegen das Böse gesiegt, immer wieder aufs Neue. Hätte das Osmanische Reich Europa erobert, Napoleon gesiegt oder der deutsche Faschismus, wir lebten nicht nur in einer anderen Welt. Sondern hätten ein völlig anderes Geschichtsverständnis.
So aber ist es, wie es ist, und der gute Zweck heiligt immer die auch bösen Mittel, dafür sorgen die Sieger. Dass wir wenigstens in Europa nach der Aufklärung und der Französischen Revolution eine Stufe der Zivilisation erklommen hätten, dass Blutmühlen und Stahlgewitter und unvorstellbare Barbarei nicht mehr möglich sind, von dieser Illusion verabschiedete man sich vor genau hundert Jahren, und nicht zum letzten Mal.
Bis zum Zusammenbruch des sozialistischen Lagers sorgte ein reiner Wahnsinn dafür, dass Imperien nicht mehr mit allem, was sie hatten, übereinander herfielen. Der Wahnsinn hiess MAD, «mutual assured destruction», Gleichgewicht des Schreckens. Ein paar Mal wurde es knapp, aber das Wissen darum, dass derjenige, der als erster auf den roten Knopf drückt, als Zweiter stirbt, bewahrte die Welt vor der möglichen völligen Zerstörung.
Kein Ende der Geschichte
Es gab zwar genügend Stellvertreterkriege, vornehmlich in der sogenannten Dritten Welt. Lateinamerika, Afrika, Asien. Auch dort konnte man, je nach ideologischer Präferenz, zwischen Gut und Böse unterscheiden. Die US-Amerikaner verteidigen Freiheit und Demokratie in Vietnam und anderswo – oder das sozialistische Lager unterstützt Befreiungsbewegungen gegen das postkoloniale imperialistische Joch. Und wer gewinnt, oktroyiert sein politisches und wirtschaftliches System auf. Man hatte eine übersichtliche, binäre Wahl. Und letztlich interessierte es die meisten Europäer, die meisten Schweizer nicht wirklich, wer sich unterstützt von wem aus welchen Gründen in fernen Gegenden die Köpfe einschlägt.
Dann kam die Zeitenwende, Idioten riefen sogar das Ende der Geschichte aus. Die Welt ist grundsätzlich gut geworden, Böses erhebt höchstens lokal das Haupt. Irgendwelche im Mittelalter stehengebliebenen Stämme oder religiöse Fanatiker schlagen Andersartigen oder Andersgläubigen die Schädel ein. Lokale Diktatorenclans herrschen, und auch die sollte man doch einfach in Ruhe lassen, ausser, sie verfügen über wertvolle Rohstoffe, dann sieht es etwas anders aus. Dann gibt es gute Diktatoren, die uns beliefern – und böse, die das nicht tun.
Doch zur grossen Verwunderung vieler begannen dann asymmetrische Kriege, Terrorismus versuchte nicht ohne Erfolg, zumindest in Form von Attentaten und Anschlägen Krieg in die Zentren der Staaten zu tragen, die für Ungemach in der eigenen Region verantwortlich gemacht werden. Aber auch da ist die Unterteilung in Gut und Böse einfach. Nur ein krankes Hirn kann wahllose Anschläge auf Unschuldige damit rechtfertigen, dass sie eben sozusagen einer Kollektivschuld unterliegen, indem sie Bürger der USA oder Europas oder welchen Staates auch immer sind, der sich militärisch oder wirtschaftlich ausserhalb seiner Landesgrenzen engagiert.
Neue Unübersichtlichkeit
Nach dem allgemeinen Aufatmen, dass das sozialistische Lager, ja die Sowjetunion selbst implodierte, ohne dass es zum Einsatz von Atombomben kam, haben wir nun in der Ukraine nicht zum ersten Mal die Situation, dass sich die einzig verbleibende Supermacht USA, das Machtgebilde EU und Russland über Dominanz und Einfluss streiten. Erschwerend kommt noch hinzu, dass die Ukraine nicht mal über nennenswerte Rohstoffe oder andere Reichtümer verfügt, die Begehrlichkeiten wecken könnten. Man streitet sich wieder einmal um einen bankrotten, wahrscheinlich gescheiterten Staat.
Ganz zu schweigen davon, dass hier keine demokratisch gewählte Regierung und auch nicht die Freiheit gegen üble, diktatorische russische Dominanz verteidigt werden muss. Wer das glaubt, fällt wieder einmal auf Propaganda, Heuchelei, Doppelmoral herein. Besonders stossend ist das in der Schweiz, die glücklicherweise neutral ist und keinerlei internationale Verpflichtungen hat, in dieser Auseinandersetzung Partei zu ergreifen.
Schon gar nicht militärisch, aber auch nicht wirtschaftlich. Weder an Sanktionen und Strafaktionen des Westens, noch an Sanktionen und Strafaktionen des Ostens. Das einzige Interesse, das die Schweiz haben kann, besteht darin, möglichst unbeschädigt in diesem Riesenschlamassel zu überleben, das grosse Imperien mal wieder anrichten. Statt unsinnige Debatten über moralische Verpflichtungen, Solidarität, Völkergemeinschaft oder Profitieren durch Abseitsstehen zu führen, ist die dringende Frage: Wie übersteht das die Schweiz? Ist die einzige Frage am Schluss: Was kann die Schweiz tun, aus völlig egoistischen Gründen, denn sie kann ja schlecht aus Europa wegziehen, um einen nächsten europäischen Krieg zu verhindern?