„Das ist eine Abstimmung über das نظام – das System“, hatte Ali Khamenei zwei Tage vor der Wahl in einer Fernsehansprache gewarnt. Recht hat der mächtigste Mann des Irans: Denn in seinen eigenen Worten ebenso wie in den offiziellen Medien ist das persische Wort für System ein Synonym für Ali Khamenei. Wie sieht nun das System Khamenei am Tage danach aus?
Es/er hat es geschafft, Ebrahim Raissi, den brutalen Revolutionsrichter, als Gewinner dieser merkwürdigen Abstimmung zu präsentieren. Über das Wie dieses Coups ließen sich Seiten füllen. Über die Tricks des Aussiebens der Kandidaten, über Wahllokale, die bis zwei Uhr Nacht offen blieben oder über die nächtliche Stimmauszählung.
Es ist müßig, über Wahltransparenz in der Islamischen Republik debattieren zu wollen. Diesmal waren jedoch Frechheit, Kaltschnäuzigkeit und Unerbittlichkeit beispiellos, selbst für die Verhältnisse des Systems Khamenei.
Über den kommenden Präsidenten dieser „Republik“ wird zukünftig viel gestritten oder vielleicht auch gerichtlich geurteilt werden. Denn der Mann hat eine sehr blutige Vergangenheit, die ihn mit Sicherheit einholen wird. Lassen wir dieses Thema für die Zukunft. Reden wir über die Gegenwart.
Der Urnengang am Freitag war also keine Wahl über eine Person, sondern ein Referendum über das System Khamenei. Und er/es ist eindeutige Verlierer dieser Volksabstimmung. Die Mehrheit der Iranern und Iranerinnen kehrte dem System den Rücken, das deuten selbst die offiziellen Statistiken an. Was bedeutet aber diese Wahlinszenierung für die Iraner*innen, für die Nachbarstaaten und für die übrige Welt?
Hier hilft uns wieder نظام, er/es.
Vor drei Wochen wurde die dubiose Kandidatenliste veröffentlicht, der Wahlkampf war damit eröffnet und die Kandidaten durften sich der Bevölkerung dreimal im Fernsehen präsentieren.
Dabei sollten sie bestimmte Fragen des Moderators beantworten, das Ganze nannte sich „Wahldebatte“ oder „Wahldialog“. Doch Khamenei hatte vorher klargestellt, dass zwei Themen in diesen öffentlichen „Debatten“ nicht zur Sprache kommen dürfen: das Internet und die Außenpolitik. Und die Kandidaten hielten sich strikt daran. Also ändert sich zuerst wenig. Innere Sicherheit und die Außenpolitik waren und bleiben Khameneis Domäne.
Das alles entscheidende Dossier der Außenpolitik ist das Atomprogramm, über das derzeit in Wien verhandelt wird. Diese Verhandlungen werden auch nach der Wahlinszenierung weitergehen. Die Atomgespräche hätten nichts mit der iranischen Wahl zu tun, hatte das US-Außenministerium schon Anfang Juni klargestellt. Auch die Amerikaner wissen: Der Herr des Atomdossiers war, ist und bleibt Khamenei. Was genau bei den Wiener Gesprächen herauskommen wird, wissen wir nicht, aber Khamenei will einen Kompromiss, weil die iranischen Kassen leer sind. Was er mit dem Raketenprogramm, mit der Unterstützung für diverse paramilitärische Gruppen in der Region und seiner Israel-Politik machen will, wird die Zukunft zeigen. Hier ändert sich nicht viel.
Doch in der Innenpolitik wird sich höchstwahrscheinlich viel ändern. Als Khamenei den Präsidentschaftskandidaten untersagte, öffentlich über das Internet zu streiten, sendete er ein eindeutiges Signal, dass er in der Innenpolitik repressiver vorgehen will.
Und dabei kann er sich hundertprozentig auf den neuen Präsidenten verlassen. Raissi ist ein ihm höriger, brutaler Vollstrecker. Mitte der achtziger Jahr hat er als Mitglied eines vierköpfigen Komitees innerhalb weniger Wochen annähernd fünftausend Oppositionelle hingerichtet. Was der neue Präsident mit der darbenden Wirtschaft, der grassierenden Armut und dem Heer der Arbeitslosen machen will, wissen wir nicht. Raissi ist kein Ökonom, er hat nur die Volksschule bis zum sechsten Schuljahr besucht, selbst sein klerikaler Titel eines Ayatollah ist höchst umstritten.
Kann man einer Wahl, die keine war, trotzdem etwas Positives abgewinnen? Ja.
Diesmal tritt der tiefe Staat an die Öffentlichkeit. Die mafiösen, mächtigen, bewaffneten Gruppen, die fast allen Präsidenten der islamischen Republik das Leben schwer machten und deren Politik mit Störmanövern torpedierten, sind nun in direkter Verantwortung, sie sind an der Spitze der Exekutive angekommen. Auch Khamenei wird sich offen zu allem bekennen, was diese Regierung tut. Die Zeiten des Doppelspiels – hier der überparteiliche Revolutionsführer, dort die unfähige Regierung – ist zu Ende.
Und die Opposition? Jene Reformisten, die stets versuchten, innerhalb des Systems und über die Urnen irgendetwas zu erreichen? Ratlos und zerstritten waren sie vor der Wahl. Ungewiss ist, ob sie künftig in der Lage sein werden, die unzufriedene Mehrheit für sich zu nutzen. Immerhin sind mehr als 70 Prozent der iranischen Bevölkerung mit ihrer Lage unzufrieden.
Mit freundlicher Genehmigung Iran Journal