Indizien lassen vermuten, dass Amerikas Demokraten bei den Zwischenwahlen im Herbst die Mehrheit im Repräsentantenhaus und im Senat verlieren werden. Dass die regierende Partei bei Midterms Sitze verliert, hat in den USA zwar Tradition. Präsident Joe Bidens schwindende Popularität aber hilft nicht mit, sich dem drohenden Machtverlust entgegenzustemmen.
Wenn am Abend des 8. November 2022 überall im Lande die Wahllokale schliessen, ist Amerika unter Umständen eine andere Nation geworden. Denn dann dürfte es der republikanischen Partei gelungen sein, im Abgeordnetenhaus und wohl auch im Senat die Mehrheit zu erlangen und einem demokratischen Präsidenten zum Trotz die politische Zukunft der Vereinigten Staaten weitgehend zu bestimmen. In 26 der letzten 29 Zwischenwahlen hat die Partei des Präsidenten im Haus jeweils Sitze verloren.
Mit den Republikanern würde eine Partei die Macht übernehmen, die unter Ex-Präsident Donald Trump zunehmend zum Führerkult mutiert ist und nicht nur in Washington DC, sondern auch in Bundesstaaten wie Florida oder Texas immer häufiger autokratische Züge trägt. Und für die, was nach der verlorenen Präsidentenwahl 2020 und der Propagierung der «Big Lie», des Wahlbetrugs, passiert ist, lediglich ein Problelauf war, um den Sieg 2024 mit allen Mitteln und um jeden Preis sicherzustellen.
Bundesrichter J. Michael Luttig, ein eingefleischter Konservativer, analysiert in einem Essay für CNN kritisch die jüngste Taktik der Grand Old Party. Es sei das ehrgeizige Ziel Donald Trumps und seiner Anhänger, 2024 denselben Plan umzusetzen, der vier Jahr zuvor nicht funktioniert habe, und den Ausgang des Urnengangs umzustossen, sollte Trump oder ein von ihm gesalbter Nachfolger die Wahl verlieren.
Dem Essay zufolge basiert die Taktik darauf, sich auf eine Doktrin zu berufen, die in der amerikanischen Verfassung unter «independent state legislature» figuriert. Sie räumt je nach juristischer Interpretation den Parlamenten in den 50 Einzelstaaten mehr Macht ein, allenfalls auch entgegen dem Volkswillen die Elektoren zu bestimmen, die am Ende den amerikanischen Präsidenten wählen.
Bundesstaatsparlamente könnten folglich in letzter Instanz darüber bestimmen, wie in den USA nationale Wahlen abzuhalten sind. Zwar hat das Oberste Gericht in Washington DC eine solche Lesart bisher zurückgewiesen, aber angesichts der heutigen Zusammensetzung des Gremiums mit sechs Konservativen gegenüber drei Liberalen ist wenig wahrscheinlich, dass die Richterinnen und Richter das im Wiederholungsfall erneut tun werden.
Laut J. Michael Luttig ist die republikanische Partei unter Donald Trump heute auf dem Sprung, 2024 den Demokraten die Präsidentenwahl zu stehlen, von der sie fälschlicherweise behauptet, Letztere hätten sie 2020 gestohlen: «Es gibt aber einen Unterschied zwischen der lügnerisch als ‘gestohlen’ etikettierten Wahl 2020 und jener allenfalls gestohlenen Wahl 2024. Anders als der von den Republikanern behauptete Diebstahl durch die Demokraten würde der Diebstahl der Republikaner in offener Missachtung der Volkswahl und damit des Willens des amerikanischen Volkes über die Bühne gehen: poetische, aber tragische Ironie, was Amerikas Demokratie betrifft.»
Bestandteil der republikanischen Taktik ist es auch, in Bundesstaaten, die bei nationalen Wahlen traditionell umstritten sind, Verhältnisse zu schaffen, die demokratische Mehrheiten zumindest erschweren, wenn nicht sogar verunmöglichen. Dazu gehört die Verabschiedung von neuen Wahlgesetzen, die Minderheiten durch allerlei Tricks daran hindern, zu einer für sie günstigen Tageszeit zu wählen oder im Voraus per Brief abzustimmen. Zur Taktik gehört auch, treu ergebene Parteigänger in jene Ämter zu hieven, die Wahlen beaufsichtigen und am Wahltag für Sicherheit sorgen. Wobei «Sicherheit» für Republikaner neuerdings heisst, unerwünschte Wählerinnen und Wähler von den Urnen fernzuhalten.
Dabei könnten die Republikaner, wenn sie denn wollten, im Herbst oder in zwei Jahren ganz legal gewinnen, denn zumindest im Kongress in Washington DC ist die Mehrheit in beiden Kammern in greifbarer Nähe. Im Senat, derzeit 50 zu 50, braucht die GOP lediglich einen Sitz mehr, um die Oberhand zu gewinnen, und im 435-köpfigen Abgeordnetenhaus würden sechs Sitzgewinne genügen, um auch dort die Mehrheit zu erlangen. Trotzdem bleiben demokratische Wahlstrategen optimistisch, wenn nicht im Haus, so angesichts republikanischer Misstritte bei der Auswahl ihrer Kandidatinnen und Kandidaten zumindest im Senat am Drücker zu bleiben.
Weniger zuversichtlich ist Senatorin Elizabeth Warren (Massachusetts), die sich wie Joe Biden 2020 um den Einzug ins Weisse Haus beworben hatte. Die Demokraten müssten sich von ihren Hintern bewegen und alles daransetzen, die Konsumentenpreise und die galoppierende Inflation zu senken, soll es bei den Zwischenwahlen kein Debakel absetzen. «Ich glaube, wir werden wirklich Probleme kriegen, wenn wir jetzt nicht aufstehen und abliefern», sagte sie in einem Fernsehinterview: «Es gibt Dinge, die zu tun das amerikanische Volk uns gewählt hat und die wir noch tun müssen.»
Die Demokraten, so die Senatorin, müssten mehr tun, um das Bewusstsein in der Bevölkerung für die politischen Leistungen der Partei wie zum Beispiel Joe Biden 1,9 Milliarden Dollar teures Infrastrukturgesetz zu steigern und der verfänglichen Botschaft der republikanischen Partei zu begegnen, die im Kulturkrieg skrupellos mit Themen wie Abtreibung, Gender oder Rasse ins Feld zieht und so wie unlängst bei der Gouverneurswahl in Virginia Erfolge erzielt hat.
Derweil listet David Brooks, Kolumnist der «New York Times», sieben Lektionen auf, welche die Demokraten beherzigen müssen, wollen sie 2024 Donald Trump nicht wiedergewählt sehen, was der konservative Kommentator für durchaus möglich hält. Sein Fazit: «Wir leben in einer Zeit der Angst, der Unsicherheit und der Unordnung an mehreren Fronten. Die Republikaner haben stets als Partei der Durchschlagskraft und der Ordnung gegolten. Die Demokraten müssen sich zu einer Position durchringen, welche die Unordnung und die Ursachen der Unordnung gezielt angeht.»
Währenddessen sind Joe Bidens Beliebtheitswerte noch nie so tief gewesen, wie sie es heute sind. Jüngsten Umfragen zufolge finden lediglich noch 41,7 Prozent der Amerikanerinnen und Amerikaner, der Präsident mache einen guten Job. Wobei Biden jedoch nur wenig tun kann, um das zu ändern, weder was die Inflation oder die Immigration an der Südgrenze noch das Ende der Corona-Pandemie oder den Dissens in den eigenen Reihen betrifft. Und gar nicht zu reden von der republikanischen Opposition, die seine Politik mit Hilfe rechter Medien abwechslungsweise als «radikal», «extrem links» oder «sozialistisch» schimpft und ihm bei der Gesetzgebung im Kongress Steine in den Weg legt, wo sie nur kann. Ganz so, als gäbe es kein Gemeinwohl, sondern nur den totalen Willen zur Macht. Das Weisse Haus und der demokratisch kontrollierte Kongress, freut sich der republikanische Senator Mitch McConnell (Kentucky)t, seien in «einen perfekten Problemsturm» geraten.
Historiker vergleichen Joe Bidens Schieflage mit jener von Lyndon B. Johnson, der sich in den 1960er Jahren als Nachfolger John F. Kennedys mit heftigen Protesten gegen den Krieg in Vietnam konfrontiert sah. Der Demokrat trat 1968 entnervt nicht mehr zur Wiederwahl an und machte im Weissen Haus dem Republikaner Richard M. Nixon Platz. Johnson hatte sich zuvor geweigert, Amerikas Truppen aus Südostasien zurückzuziehen, gleichzeitig aber nie erwogen, den Krieg durch den Einsatz von Atomwaffen zu beenden. «Die einzige Macht, die ich habe, ist nuklear», pflegte er zu sagen, «und nicht einmal die kann ich einsetzen.»