Der Spitzenreiter unter den bisher verkauften Büchern zum Ersten Weltkrieg ist das Werk des neuseeländischen Historikers Christopher Clark, das unter dem Titel „Die Schlafwandler“ in der Deutschen Verlagsanstalt erschienen ist.
"Die Schlafwandler"
Es handelt sich um ein gutes, lesenswertes Buch. Rechtzeitig fertiggestellt und übersetzt, vom Verlag mit grossem Werbeaufwand angepriesen, von Presse und Fernsehen gelobt, hat dieses Buch vom Start weg die Führung übernommen und wird sie wohl bis zum Ziel nicht mehr abgeben.
Der Schwerpunkt dieser Darstellung liegt freilich auf der Vorgeschichte des Krieges; wer über den Kriegsverlauf orientiert sein möchte, kommt nicht auf seine Rechnung. Ein Hauptmerkmal von Clarks Werk ist, dass der Autor die Frage der Kriegsschuld sehr vorsichtig angeht und Gründe für den Kriegsausbruch bei allen am Krieg beteiligten Mächten findet. Dies führt faktisch zu einer Entlastung des Deutschen Reiches, dem in der Fachliteratur häufig eine Hauptverantwortung zugeschrieben wird.
Entlastung des deutschen Lesers
Der Titel „Die Schlafwandler“ suggeriert ferner eine Entlastung aller Akteure, legt er doch nahe, dass diese nicht voll zurechnungsfähig gewesen seien. Dies hat mit Bestimmtheit zum guten Erfolg des Buches in Deutschland beigetragen; denn der deutsche Leser, ohnehin mit der Verantwortung für die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs belastet, möchte nicht auch noch mit der Hauptschuld am Ersten Weltkrieg konfrontiert werden.
Dem Leser, der sich eine sorgfältige Analyse des Kriegsausbruchs und einen guten Überblick über das ganze Kriegsgeschehen wünscht, seien zwei Bücher des Düsseldorfer Professors Gerd Krumeich, des zurzeit wohl besten Kenners dieses Themas in Deutschland, empfohlen.
Ausgewogene Darstellung
Das erste Buch hat Krumeich zusammen mit seinem Stuttgarter Historikerkollegen Gerhard Hirschfeld verfasst. (1) Dieses Buch stellt zwar Deutschland in den Vordergrund, gibt aber eine ausgewogene Darstellung der Kriegsursachen und des Kriegsverlaufs bis zum Frieden von Versailles, der, wie man weiss, den Keim zum nächsten Krieg schon in sich trug.
Besonders erwähnt sei, dass auch die Kulturgeschichte nicht vernachlässigt wird. So erfahren wir etwa Interessantes über die damalige Kriegspropaganda und darüber, wie sich die Kriegserfahrung der Soldaten in den Feldpostbriefen widerspiegelte.
Die Meisterleistung
Eine Meisterleistung historischer Darstellung, die wohl nicht mehr übertroffen werden dürfte, legt Krumeich mit seinem Buch „Juli 1914“ vor (2). Das Buch hat zwei Teile: Zuerst gibt der Autor eine sorgfältige Analyse der internationalen Politik im kriegsentscheidenden Monat Juli; dann fügt er eine Auswahl diplomatischer Schlüsseldokumente an, die es dem Leser gestatten, sich ein eigenes Bild zu machen.
Aus den Dokumenten geht hervor, dass alle am Krieg beteiligten Staaten von der verfehlten Vorstellung ausgingen, es würde sich um einen kurzen Krieg von wenigen Monaten handeln. Auch waren vulgärdarwinistische Ideen weit verbreitet, die im Krieg ein legitimes Mittel sahen, das Recht des Stärkeren zu behaupten.
Im Gegensatz zu Clark kommt Krumeich, was die Verantwortung für den Kriegsausbruch betrifft, zu einem deutlichen Urteil: „Meine Folgerungen aus den Akten der Beteiligten“, schreibt er, „aus ihren Handlungen und Unterlassungen, sind eindeutig: Das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn haben sich auf ein Vabanquespiel eingelassen, das den Schritt in den grossen Krieg nicht scheute, um die Balance in der europäischen Politik zu ihren Gunsten zu wenden.“
Fortsetzung folgt
Aber noch haben nicht alle Verlage ihr Pulver verschossen. Der renommierteste deutsche Verlag für historische Werke, C.H. Beck in München, kündigt gleich mehrere Bücher zum selben Thema an, darunter, kaum zu glauben, ein weiteres Buch von Krumeich mit dem Titel „Der Erste Weltkrieg. Die 101 wichtigsten Fragen“.
Natürlich wissen die Werbeleute bei Beck, dass der Bucherfolg der Deutschen Verlagsanstalt mit Clarks „Schlafwandlern“ kaum mehr zu wiederholen ist. So versuchen sie, an den Erfolg Clarks anzuknüpfen, indem sie in ihrer Programmvorschau eines ihrer Bücher zum Thema so empfehlen: „Für alle Leser der ‚Schlafwandler‛, die wissen wollen, wie es weiterging.“
(1) Gerd Krumeich, Gerhard Hirschfeld, Deutschland im Ersten Weltkrieg. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013
(2) Gerd Krumeich, Juli 1914. Eine Bilanz. Mit einem Anhang: 50 Schlüsseldokumente zum Kriegsausbruch, Ferdinand Schöningh Verlag Paderborn 2014