Es waren zwar eigentlich „nur“ Landtagswahlen. Also Urnengänge, bei denen die Bürger zunächst in Bayern und nun auch im Bundesland Hessen die Zusammensetzung ihrer regionalen Parlamente und Regierungen für die nächsten fünf Jahre bestimmen sollten. Aber die Wähler haben über weit mehr entschieden. Sicher, in München und im gesamten weiss-blauen Freistaat wurde vor zwei Wochen die selbstherrlich gewordene CSU brutal abgewatscht, und in Wiesbaden bekam die seit 15 Jahren die hessische Regierung dominierende CDU eine schallende Klatsche. Tatsächlich jedoch haben die beiden Ereignisse ein fundamentales politisches Erdbeben in Deutschland ausgelöst, das sich zwar bereits seit geraumer Zeit andeutete, dessen langfristige Folgen indessen noch nicht abschätzbar sind. Eines, allerdings, ist schon jetzt sicher – das Ergebnis von Hessen markiert zugleich den Anfang vom Ende der Ära Angela Merkel.
Schluss mit Parteivorsitz
Der erste Schritt dazu war die Bekanntgabe Merkels, auf dem CDU-Bundesparteitag am 2. Dezember nicht mehr für den Vorsitz zu kandidieren und am Ende der Wahlperiode ganz aus der Politik auszuscheiden. Dabei hatte sie noch bis in die letzten Stunden vor der Hessenwahl das Gegenteil verkündet. Als Bundeskanzlerin hingegen will sie bis 2021 weitermachen. Das kann freilich nur bedeuten, dass sie ihren Rückzug insgesamt wenigstens einigermassen geordnet regeln und den Übergang in der Nachfolge möglichst vernünftig organisieren möchte. Angela Merkel ist Naturwissenschaftlerin und weiss, Dinge gegeneinander abzuwägen. Und dazu gehört die Einsicht, dass sie dem innerhalb der CDU bereits bestehenden und nun auch noch anwachsenden, mit dem Verlangen nach Veränderung gepaarten Druck nicht würde standhalten können.
Immerhin hat (Wahl-)Volkes zornige Stimme in Bayern und Hessen Donnergrollen und Blitz weit über die beiden Landesgrenzen hinaus getragen. Ja, manches deutet sogar darauf hin, dass möglicherweise ein reinigendes Gewitter frischen Wind in die aufgeladene Berliner Koalitions-Atmosphäre bringen wird. Auch wenn die sich jetzt abzeichnende Personal-Rochade von den betroffenen Akteuren, weiss Gott, allenfalls nur noch zum Teil selbstbestimmt vollzogen wird, findet sie doch wenigstens statt. Und zwar zu einem Zeitpunkt, von dem aus der Boden neu bereitet werden kann bis zur nächsten Bundestagswahl 2021. Freilich nur, was CDU und CSU betrifft.
Im Fluss: Das ganze Parteiengefüge
In Wirklichkeit wankt und schwankt ja seit längerem schon im Grunde das ganze Parteiengefüge zwischen Flensburg und Konstanz, zwischen Rhein und Oder. Die vor allem für die beiden traditionellen Volksparteien CDU/CSU und SPD desaströsen Wahlergebnisse in Bayern und Hessen haben das knarrende Gebälk lediglich zum Einsturz gebracht. Denn in beiden Bundesländern haben landespolitische Aspekte nur marginal die Stimmabgabe der Bürger beeinflusst. Die Alpenrepublik im Süden genau wie die in der Mitte Deutschlands liegende Region zwischen Main und Weser und dem Finanzstandort Frankfurt als Zentrum gehören, ohne Frage, zu den technologisch, finanziell und wirtschaftspolitisch gesündesten in Deutschland.
Wäre da nicht der Zorn auf die und der Frust wegen derer „dort in Berlin“ gewesen, hätte man das hessische Wählervotum durchaus als ein Stück aus Absurdistan werten können. Die Wiesbadener schwarz-grüne Koalition unter Führung des CDU-Ministerpräsidenten Volker Bouffier hat, hinsichtlich ihrer Leistungen, in nahezu sämtlichen Umfragen Bestnoten erhalten. Trotzdem bekamen die hessischen Christdemokraten mit minus 11 Prozent die alleinige Abreibung. Dagegen fuhren die Grünen mit 19,8 Prozent (ein plus von 8,7 Prozent) nicht nur reiche Ernte ein, sondern landeten bei gleicher Prozentzahl, aber 94 (!) Stimmen mehr als die SPD, auf Platz zwei des Siegerpodests. Und das, obwohl ihr Spitzenmann und neuer Star, Tarek Al-Wazir als Wirtschaftsminister während der vergangenen fünf Jahre nahezu sämtliche Infrastrukturmassnahmen umsetzte, gegen die er zuvor und seine Parteifreunde (nicht selten auch körperlich) massiv demonstriert hatten.
SPD auf der Rutschbahn
Man muss es sich immer mal wieder vor Augen halten – im Gegensatz zu Bayern war Hessen jahrzehntelang sozusagen sozialdemokratisches Stammland. Das ist zwar Vergangenheit. Dennoch konnte (wiederum laut Umfragen) der nun schon zum dritten Mal vergeblich anstürmende SPD-Landesvorsitzende Thorsten Schäfer-Gümbel für die von ihm gesetzten Themen (z. B. bezahlbarer Wohnraum, Bildung, Digitalisierung) hohe Zustimmung vermerken. Trotzdem blieben die Stimmen an den Urnen aus. Im Gegenteil – es folgten erneut hohe Verluste und das schlechteste Ergebnis für die Genossen seit 1946! Ursache: Wählerempörung über das Regierungschaos der Grossen Koalition in Berlin. Volkspartei SPD wie unter Willy Brandt oder Helmut Schmidt? Vorbei. Nur noch Erinnerung. Die Polit-Rutschbahn geht weiter nach unten.
Und die Grünen? Manche sprechen von einem Phänomen angesichts der politischen Gipfelstürmerei der einstigen Sonnenblumen-Freunde. Dabei liegen deren Geheimnisse eigentlich relativ offen zutage. Natürlich spielt auch bei dieser Partei „Berlin“ eine nicht unbeträchtliche Rolle. Auf Bundesebene steht sie nicht in Regierungsverantwortung und ist entsprechend ausserhalb des negativen Polit-Erscheinungsbilds. Entscheidender dürfte indes sein, dass der grüne Bürgerschreck von einst sich längst „gehäutet“ hat und auch von der Mitte der Gesellschaft als – wörtlich – „moderne, bürgerliche Partei“ wahrgenommen wird. Wer die – nicht nur aktuellen – Ergebnisse von Wahlkreisen unter die Lupe nimmt, stellt schnell fest, dass der höchste Zulauf in den so genannten „guten“ Wohnbezirken ausgewiesen ist, wo die Kinder gern mit PS-starken SUVs zur Schule gefahren werden .
Auf dem Weg zur neuen Volkspartei?
Nicht wenige Beobachter der politischen Szene in Deutschland sehen in den Grünen bereits die „neue Volkspartei“ anstelle von CDU/CSU und SPD. Andere hingegen warnen, es könne sich durchaus um ein politisches „Strohfeuer“ handeln. So oder so – im Moment präsentiert sich die bunte Partei jedenfalls ohne Zweifel als eine Art Wohlfühl-Projektionswand. Ihre mit Abstand stärkste Wählergruppe: Junge Frauen zwischen 18 und 40 Jahren. Sie stellen 37 Prozent des gegenwärtigen Wählerpotentials. Das ist, ebenso wenig wie der gegenwärtig so rasante Höhenflug, gewiss noch kein sicheres Fundament für die Zukunft. Aber der Erfolg ist auf jeden Fall eine mehr als ernste Herausforderung der gegenwärtig gebeutelten „Altparteien“.
Und er ist noch etwas: Nämlich der Beweis dafür, dass Wahlen in Deutschland zum Glück immer noch nicht nur am rechten Rand gewonnen werden können. Gewiss, die rechtsnationale Alternative für Deutschland (AfD) ist mit ihren 13,1 Prozent bei der Hessenwahl nun auch in den 16. und damit letzten deutschen Landtag eingezogen. Das ist, ohne jede Frage, ein Riesenerfolg. Schliesslich war die Partei erst vor fünf Jahren gegründet worden. Übrigens, in Hessen. Allerdings war das damals noch eine total andere Gruppierung, die vor allem aus bürgerlich-professoralen EU- und Euro-Gegnern bestand. Das hat sich total gewandelt.