Bis um 05.00 Uhr heute früh hatte die Regierung getagt, sechs Stunden lang. Als die ersten Schwalben erwachten, war der Kompromiss da. „Die Italiener erhalten ihre Autobahnen wieder“, frohlockte der Minister für wirtschaftliche Entwicklung Stefano Patuanelli.
Die italienischen Autobahnen waren Ende der Neunzigerjahre von der Mitte-links-Regierung von Ministerpräsident Romano Prodi privatisiert worden.
Ein Konsortium mit der Textil- und Modefirma Benetton hatte den Zuschlag erhalten. Die Betreiber verdienten sich eine goldene Nase und schütteten jährlich fürstliche Dividenden aus.
Benetton hielt 30 Prozent an der Infrastrukturfirma „Atlantina“. Diese besitzt den Autobahnbetreiber „Autostrade per l’Italia“.
Mangelnde Wartung
Dann, vor zwei Jahren, stürzte in Genua die Morandi-Brücke ein. Die Ursache dafür ist klar: mangelnde Wartung, mangelnder Unterhalt. Um das zu verschleiern, wurden falsche Wartungsrapporte ausgeführt, die dann seltsamerweise verschwanden.
Benetton wurde für die 43 Toten des Morandi-Einsturzes verantwortlich gemacht. Um saftige Dividenden ausschütten zu können, wurde beim Unterhalt gespart und betrogen, hiess es. Schnell kam die Forderung auf, der „Autostrada per l’Italia“ (Aspi), die von den Benettons dominiert wurde, die Konzession für das Autobahnnetz zu entziehen. Man machte Vorschläge, man stritt sich, man verschlampte das Thema – nichts geschah. Verkehrsministerin Paola De Micheli hatte allerdings schon vor Monaten Ministerpräsident Conte auf den unhaltbaren Zustand aufmerksam gemacht. Conte reagierte nicht.
Ein Schrei ging durch Italien
Jetzt plötzlich, drei Wochen vor der Eröffnung der neuen Brücke fragte man sich: Wer soll eigentlich die Konzession für ihren Betrieb erhalten?
Verkehrsministerin De Micheli erklärte letzte Woche, die Konzession werde provisorisch wieder der Aspi gegeben, dies, um die Inbetriebnahme der neuen Brücke nicht zu verzögern.
Ein Schrei ging durch Italien. Das Konsortium, das für den Tod von über 40 Menschen verantwortlich ist und sich kaum schuldig fühlte, soll wieder die Konzession erhalten? Davide Crippa, der Fraktionsvorsitzende der Fünf Sterne sagte, die Vergabe der Konzession an Autostrade „wäre eine Ohrfeige für die Angehörigen der Opfer“.
Die Benettons knickten ein
Jetzt, auch aufgrund des wachsenden Volkszorns, wurde die Regierung hyperaktiv. Ministerpräsident Giuseppe Conte erklärte klipp und klar: Der Aspi und Benetton müsse die Konzession entzogen werden. Doch wer soll sie erhalten? Viele fürchteten, dass mit einem Entzug dem Staat Kosten von vielen Milliarden aufgebürdet würden. Die letzten Tagen verliefen turbulent. Der Druck auf die Benettons wuchs.
Jetzt, am Mittwochmorgen, als die Schwalben aus ihren Nestern flogen, hat man sich offenbar geeinigt. Die Benettons knickten ein und akzeptieren alle Bedingungen der Regierung.
Die Mehrheit an der „Autostrada per l’Italia“ wird die „Cassa Depositi e Prestiti“ (CDP) übernehmen. Dabei handelt es sich um ein zu 82 Prozent staatliches Kreditinstitut, das vor allem Vorhaben des öffentlichen Interesses finanziert.
Fünf Prozent weniger Autobahngebühren
Benetton selbst zieht sich schrittweise zurück und soll – vielleicht – später noch 10 Prozent der Aktien halten.
Im weiteren sieht die Übereinkunft vor, dass Benetton 3,4 Milliarden Euro für die Morandi-Katastrophe bezahlt. Das Geld dient einerseits dem Bau der neuen Brücke und als Entschädigungen für die Angehörigen der 43 Opfer.
Die Vereinbarung sieht auch vor, dass die Autobahn-Gebühren – sie gehören zu den höchsten in Europa – um fünf Prozent gesenkt werden.
„Gerechtigkeit“
„Wir haben es geschafft“, sagte Luigi di Maio, der italienische Aussenminister und einer der heftigsten Gegner des Mode-Unternehmens. „Die Benettons werden die Autobahnen nicht mehr betreiben.“ Und: „Ich versichere Ihnen, dass es nicht leicht war, einem Finanzgiganten wie den Benettons gegenüberzutreten. Aber der Staat hat gezeigt, dass er weiss, wie man es macht.“
Unterstaatssekretär Riccardo Fraccaro kommentierte: „Das öffentliche Interesse hat sich durchgesetzt, die Autobahnen kehren zu den Bürgern zurück: der Gerechtigkeit wird Genüge getan. Es ist das Ende der Benetton-Ära und derer, die den Profit über die Sicherheit stellten. Jetzt kehrt der Staat wieder zum Staat zurück.“
„Eine wichtige Nacht“
Vieles ist noch offen. Doch fest steht: Ein langer Rechtsstreit, wie befürchtet, kann verhindert werden. Die Minister für Verkehr und Wirtschaft werden nun die Details aushandeln. Es ist zu hoffen, dass sie dem hoch verschuldeten Staat nicht ein weiteres Milliarden-Loch bringen werden.
Stefano Patuanelli sagt, es „war eine wichtige Nacht nicht nur für die Regierung, sondern für ganz Italien – und auch für die Opfer und ihre Angehörigen des Morandi-Einsturzes“. Aus moralischer und politischer Sicht habe man die Verwaltung der Autobahnen „nicht jenen überlassen können, die die Tragödie verursacht haben“.
Viele fürchteten, über der bevorstehenden Eröffnung der 1’067 Meter langen neuen Brücke würde ein schwarzer Schatten liegen. Jetzt freut sich nicht nur Politik. Am 1. August soll mit grossem Pomp die vom Stararchitekten Renzo Piano in Rekordzeit von zehn Monaten errichtete Brücke dem Verkehr übergeben werden.
(J21/hh)