Eigentlich sollte sich ganz Italien über das Meisterwerk freuen. In nur zehn Monaten wurde das neue, 1067 Meter lange Autobahnviadukt fertiggestellt. Das Bauwerk, das Teile von Genua überspannt, ersetzt die Morandi-Brücke, die vor knapp zwei Jahren einstürzte. 43 Menschen hatten den Tod gefunden.
Der Einsturz am 14. August 2018 war ein nationales Drama und rüttelte am Selbstvertrauen einer ganzen Nation. „Wir können nichts, wir sind nichts, wir bringen es zu nichts“, war damals zu hören. Die italienische Volksseele war tief verletzt. Der Einsturz wurde zum Symbol des Zustandes des ganzen Landes.
„Eine Wunde ist geheilt“
Dass es nun so schnell ging, bis die neue Brücke stand, ist Balsam auf diese Volksseele. „Wir können es eben doch – wenn wir wollen.“ Spricht man heute mit Italienern wird schon jetzt – gut drei Wochen vor der Einweihung – mit stolz auf das Bauwerk hingewiesen. Entworfen wurde es von dem aus Genua stammenden italienischen Stararchitekten Renzo Piano. „Eine Wunde ist geheilt“, sagte Ministerpräsident Giuseppe Conte Ende April, als der Rohbau fertiggestellt wurde.
Doch nun wird die Freude überschattet. Verantwortlich für den Einsturz der Morandi-Brücke war der italienische Autobahnbetreiber „Autostrade per l’Italia“. Das Unternehmen, dem unter anderem die Firma Benetton angehört, hat nachweislich die Unterhaltsarbeiten vernachlässigt. Autostrade zahlte nur 30’000 Franken pro Jahr für die Instandhaltung dieses wichtigen Infrastrukturwerks. Revisionsarbeiten wurden in Dokumenten festgehalten, doch fanden nie statt. Nach dem Einsturz wurden Akten vernichtet.
Saftige Dividenden
Benetton hält 30 Prozent an der Infrastrukturfirma „Atlantina“. Diese besitzt den Autobahnbetreiber „Autostrade per l’Italia“, der fast die Hälfte des italienischen Autobahnnetzes managt. Dazu gehörte die eingestürzte Morandi-Brücke.
1,4 Milliarden Euro Gewinn machte die Benetton-Firma pro Jahr und zahlte saftige Dividenden aus. Diese wollte man nicht – so der Vorwurf – mit teuren Unterhaltsarbeiten gefährden. Benetton sprach von Rufmord.
„Benetton, nie wieder“
Politiker aller Couleur verlangten von der Autostrade Milliardenabfindungen für die Hinterbliebenen der 43 Toten sowie für den Bau des neuen Viadukts. Mehrere Prozesse laufen gegen die Firma, die sich jetzt abgekürzt nur noch „Aspi“ nennt (Autostrade per l’Italia). Zudem wurde gefordert, dass die Konzession für die neue Brücke einer anderen Firma übertragen wurde. Auch Ministerpräsident Conte sagte damals: „Benetton, nie wieder.“
Und jetzt dies: Die italienische Verkehrsministerin Paola De Micheli erklärte, die neue Brücke, deren Name erst am 1. August offiziell enthüllt werden soll, werde wieder von der Aspi betrieben. Dies „um die termingerechte Einweihung der Brücke nicht zu verzögern“.
„Konzession pro-tempore“?
Zwar handle es sich um eine provisorische Konzession, sagt De Micheli, eine „Konzession pro-tempore“. Die Prozesse gegen die Familie Benetton würden weitergeführt. Die Konzessionsvergabe „beeinträchtige in keiner Weise das laufende Streitverfahren im Zusammenhang mit dem Unfall vom 14. August 2018“. Es sei also nicht ausgeschlossen, dass die Konzession später der Aspi entzogen würde.
Doch wem soll sie dann gegeben werden? Ein anderes Unternehmen ist nicht in Sicht. Eigentlich hat die italienische Regierung heute keine Wahl.
Unentschlossen, undurchsichtig
Italiens Ministerpräsident Conte sagte jetzt: „Wir haben um die 43 Toten getrauert, wir haben den Schutt beseitigt, wir haben die Reste der alten Brücke mit kühnen Massnahmen weggefegt, wir haben trotz Coronavirus das Viadukt in Rekordzeit entworfen und gebaut.“ Nur: Wer die Konzession für die Brücke erhalten sollte – darüber gab es ein undurchsichtiges Hin und Her. Niemand wusste, wie weiter, alle zeigten sich unentschlossen. Eine konkrete Suche nach einem neuen Konzessionär gab es nicht. Immer wieder hiess es, die gut ein Kilometer lange Brücke könne konzessionsmässig nicht vom Rest des Autobahnnetzes abgetrennt und einer anderen Firma anvertraut werden.
So wird nun die neue Brücke jenem Betreiber übergeben, der verantwortlich für den Einsturz und den Tod von 43 Menschen ist. Eine Gegenleistung wurde bisher nicht verlangt. Die Firma hat sich bisher nicht wirklich für den Einsturz entschuldigt, Verantwortliche wurden keine genannt. Die Angehörigen der Hinterbliebenen wurden von der Aspi bisher nicht entschädigt.
Ohne etwas zu erhalten
Giovanni Toti, der Präsident der Region Ligurien, in der Genua liegt, erklärte: „Nach zwei Jahren der Drohungen, der Unbeweglichkeit und der versprochenen Gerechtigkeit wird also die Brücke von Genua wieder an Autostrade übergeben – ohne etwas zu erhalten. Für die Tragödie des Einsturzes hat noch niemand etwas bezahlt.“ Und: „Während in Rom gestritten wurde, haben wir Ligurier zumindest die Brücke im Rekordtempo aufgebaut.“
Die Vergabe der provisorischen Konzession an „Autostrade“ ist natürlich ein gefundenes Fressen für die Gegner der Regierung Conte, die aus Sozialdemokraten und Fünf Sternen besteht. Vor allem die Cinque Stelle kriegen jetzt ihr Fett ab, weil sie sich damals als erste lautstark gegen Benetton in Szene setzten.
„Eine Ohrfeige für die Angehörigen der Opfer“
Doch auch bei den Fünf Sternen regt sich jetzt Kritik. Vito Crimi, der amtsführende Capo politico der Sterne erklärt: „Die Brücke von Genua darf nicht in die Hände der Benettons zurückgegeben werden. Das können wir nicht zulassen. Diese unverantwortlichen Leute müssen zur Rechenschaft gezogen werden.“ Davide Crippa, der Fraktionsvorsitzende der Fünf Sterne sagt, die Vergabe der Konzession an Autostrade „wäre eine Ohrfeige für die Angehörigen der Opfer“.
Die Brücke soll am 29. Juli fertiggestellt sein. Am 1. August wird sie eröffnet. Das neue Viadukt ist eine der wichtigsten Autobahnbauten in Italien und von grosser wirtschaftlicher Bedeutung: 25 Millionen Autos überquerten die alte Brücke jedes Jahr.
Und die 43 Toten?
Der Vater der neuen Brücke, der heute 83-jährige Renzo Piano ist auch in der Schweiz kein Unbekannter. Er baute in Riehen bei Basel die Fondation Beyeler und in Bern das Zentrum Paul Klee.
Zu seinen jüngsten Werken gehört „The Shard“ in London, der höchste Wolkenkratzer Europas, und das „Times Building“ in New York. Staatspräsident Giorgio Napolitano hatte Piano 2013 zum Senator auf Lebenszeit ernannt.
Man könnte es sehr zynisch sagen: Der Einsturz der Morandi-Brücke war ein Geschenk für den Autobahnbetreiber. Er erhält jetzt eine wunderbare, nagelneue Brücke, muss nichts dafür bezahlen und kassiert weiterhin Autobahngebühren. Und die 43 Toten? Schnee von gestern.
PS: Die Nachricht, dass Aspi ohne Gegenleistung eine temporäre Konzession erhält, hat in Italien einen riesigen Wirbel ausgelöst. Am Donnerstag wird dem Chef der Aspi ein Ultimatum gestellt. „Auf dem Tisch liegt eine geladene Pistole“, schreibt die Römer Zeitung La Repubblica. „Und die Regierung ist jetzt bereit, sie zu benutzen.“ „Es ist eine inakzeptable Situation“, erklärte Ministerpräsident Giuseppe Conte am Mittwochabend bei seinem Besuch in Madrid.
Das Ultimatum sieht so aus: 1.) Die Regierung fordert von Aspi, dass die Automobilisten auf dem ganzen von Aspi kontrollierten Autobahnnetz 5 Prozent weniger Gebühren bezahlen müssen, 2.) dass Aspi für den Einsturz der Morandi-Brücke mit 3 Milliarden Euro belastet wird, 3.) dass der Staat die Kontrolle über Aspi übernimmt. Sollte Autostrade diese Bedingungen nicht erfüllen, würde die Benetton-Gesellschaft die Konzession entzogen.