Städte haben ihre Plätze. Meist waren es Marktplätze mit Zentrumsfunktion. Dörfer haben ihren Kern. Ein Besuch im Nidwaldner Flecken Stans, der sich bescheiden Dorf nennt, aber einen repräsentativen Kern kennt – einen identitätsbildenden Mittelpunkt und heute Abend Treffpunkt für viele.
Er sei «der Schönste weit und breit», sagt der ehemalige Nidwaldner Denkmalpfleger Gerold Kunz vom Stanser Dorfplatz.[1] Und so denken wohl auch manche Stanserinnen und Stanser. In ihrem heiteren Grössenwahn sehen sie sich vom Schweizer Kunsthistoriker Eduard Müller bestätigt. Wahrlich, sie hat etwas Heiteres und Grossartiges gleichzeitig, diese grosszügig angelegte, hügelan steigende Piazza von Stans, dieses bauliche Barock-Ensemble von Sakralem und Profanem. Fast wie eine Arena wirkt dieser Dorfkern. Auch für Müller gilt er darum «als einer der schönsten Plätze der Schweiz».[2]
Stans – Marktflecken ohne Mauerring
Um 1200 zählte die heutige Schweiz rund 35 Städte. 100 Jahre später waren es fünfmal mehr, meist Klein- oder gar Zwergstädte. Einige dieser 200 mittelalterlichen Schweizer Städte sind wieder verschwunden, wie etwa das Mini-Städtchen Cham oder das luzernische Alt-Eschenbach. Die wuchtige Welle von Stadtgründungen des 13. Jahrhunderts verlor aber in den Voralpen ihre Dynamik[3] Altdorf, Schwyz, Sarnen, Glarus, Appenzell, Herisau blieben darum Markflecken. Zu diesen Orten zählt auch Stans. Die Stadtmauern fehlten. Schutz gewährten Palisaden. Eindrücklich zeigt das die Eidgenössische Chronik des Luzerners Diebold Schilling von 1513. Die Illustration erinnert an das Stanser Verkommnis vom 22. Dezember 1481. Auf dem Dorfplatz warten Männer auf das Ergebnis der Tagsatzungsgespräche.
Und noch etwas erkennen wir in der zeitgenössischen Bilderchronik: Die Wohnhäuser waren aus Holz gebaut und vielfach nahe aneinandergereiht. Eingedeckt wurden sie meist mit Holzschindeln. Das war brandgefährlich. Im Feuer lauerte der listigste Feind damaliger Siedlungen. Brände legten manche Orte in Schutt und Asche, so 1464 beispielsweise die Stadt Chur.
Ein weiter Platz mit repräsentativen Steinbauten
Das gleiche Schicksal erlitt der kleine Flecken Stans. Mitte März 1713 fielen im Dorfzentrum 81 Gebäude einer Feuersbrunst zum Opfer. Gut zwei Drittel des Ortes waren eingeäschert. Verschont blieb die Pfarrkirche. Rasch und rigoros ging es an die Rekonstruktion. Ein Gesamtplan wies den Weg. Strenge Vorschriften regelten den Wiederaufbau des Dorfkerns. Bei einem Verstoss gegen die obrigkeitlichen Vorgaben drohten drakonische Strafen – «bey Leib, Ehr und Guott».
Rathaus und Kirche sollten vor künftigen Bränden verschont bleiben. Darum wurde eine grosse Fläche freigehalten und mit einem Bauverbot belegt. Im Zentrum des neuen Dorfplatzes steht seit 1724 ein sechseckiges Brunnenbecken mit einer Winkelriedstatue. Sternförmig streben die Dorfgassen auf diese Ortsmitte zu. Umgeben ist der weite Platz von repräsentativen Steinbauten mit dem neuen Rathaus und seinem mittelalterlichen Rundturm – als Kontrapunkt zur frühbarocken Kirche mit ihrem fein gegliederten romanischen Glockenturm.
Mächtige Bürgerhäuser als kompakte Front
Augenfällig wirkt die südliche Häuserreihe; es ist eine Gruppe mit drei eindrücklichen barocken Bürgerhäusern. In der Mitte steht das dreigeschossige «Zelgerhaus» mit einem ausgebauten, zweistöckigen Dachgeschoss. Entstanden ist es 1715, zwei Jahre nach dem verheerenden Flammenmeer. Auch die beiden andern Gebäude gehörten einflussreichen Stanser Familien.
Stans, der Hauptflecken des Standes Nidwalden, sollte «nicht nur gegen Brandkatstrophen gesicherter werden – er sollte zusätzlich auch durch seine Anlage das Auge erfreuen und Fremde beeindrucken», erzählt die Nidwaldner Kantonsgeschichte.[4] Eindruck gemacht hat das neue Ensemble auch auf Johann Wolfgang von Goethe.
«Der alte Winkelried mit den Speeren im Arm»
Auf seiner dritten Schweizer Reise vom Spätherbst 1797 weilte Goethe in Stans. Seine kleine Reisegruppe übernachtete im «Gasthof zur Krone». Das Gebäude befindet sich «auf einem hübschen Platz», notierte er in seinem Tagebuch. Und der Platz liegt, so der Dichter weiter, «der Kirche gegenüber. […] In der Mitte steht ein Brunnen, auf dem der alte Winkelried mit den Speeren im Arm gestellt ist», schreibt Goethe.[5] Da fehlt nur noch «der gute alte»! Doch so alt war Arnold von Winkelried nun auch wieder nicht. Der mythische Kriegsheld in der Schlacht von Sempach 1386 muss jung gewesen sein. Und das Denkmal stand erst seit 1724.
Ein zweites Winkelried-Memorial prägt den weiten Platz. Geschaffen hat es der Bildhauer Ferdinand Schlöth. Das Monument von 1865 steht ganz im Zeichen des Historismus. Am Boden liegt der tote Kämpfer. Er stellt die Vergangenheit dar, die Vorfahren. Mit ihrem Opfertod haben sie das Fundament fürs Künftige gelegt. Lange Zeit zuvor. Die mittlere Figur repräsentiert die Söhne der Vorfahren. Sie opfern sich hier und heute – mit Blick auf die nachrückende Generation. Der junge Kämpfer, der sich über seine beiden Vorfahren hinwegsetzt, verkörpert darum die Zukunft: ein Symbol in Carrara-Marmor für den Generationenvertrag.
Geschichten und Plätze führen zusammen
Mythische Geschichten à la Winkelried und Wilhelm Tell sollten das Gemeinschaftsgefühl in der Eigenossenschaft festigen. Heroische Narrative mussten Gräben glätten und das Miteinander stärken – das galt für die Epoche nach den Burgunderkriegen und der Reformation um 1500, das galt für die Zeit im jungen Bundesstaat nach dem Sonderbundskrieg von 1847. Erzählungen führen zusammen und untermauern die Zusammengehörigkeit. Auf dem Stanser Dorfplatz stehen gleich zwei Winkelried-Denkmale.
Auch Plätze führen zusammen. Der Dorfplatz von Stans will mehr als nur «das Auge erfreuen und Fremde beeindrucken». Autofrei, ist er der Treffpunkt vieler. Nicht nur an der Fasnacht und bei der traditionellen Älplerchilbi[6], bei den Stanser Musiktagen und der jährlichen Winkelriedfeier vom 9. Juli oder am Stanser Wochenmarkt. Der Platz mit dem stimmigen dörflichen Barock-Ensemble wirkt integrierend. Ob er der schönste Dorfplatz der Schweiz ist, spielt eine nachgeordnete Rolle. Viel wichtiger ist das Unsichtbare: Auch Plätze weisen – wie die Festspiele oder Schillers «Wilhelm Tell» – auf eine kollektive Autobiographie der Schweiz. Sie war für die Identitätsfindung und den Zusammenhalt unseres Landes bedeutsam. Das unterstreicht der Literat und Zürcher Hochschullehrer Peter von Matt.[7] Und das zeigt sich am Stanser Dorfplatz. Heute führt er wieder viele zusammen – am Tag der Winkelriedfeier.
[1] Gerold Kunz: Der Schönste weit und breit. In: KARTON, Architektur im Alltag der Zentralschweiz, Nr. 27/2013, S. 5.
[2]Zitiert nach Fabrizio Brentini: Kunst und Kultur: Grosse Baukunst, kleine Preziosen. In: Geschichte des Kantons Nidwalden. Bd. 1. Stans: HVN, 2014, S. 195.
[3] Kurt Messmer: Sarnen – Geschichte im Massstab 1:1. In: https://blog.nationalmuseum.ch/2022/11/sarnen-geschichte-im-massstab-11/ [abgerufen: 07.07.2024]
[4]Zitiert nach Daniel Krämer: Lebensraum: Eine Natur voller Gefahren. In: Geschichte des Kantons Nidwalden. Bd. 1. Stans: HVN: 2014, S. 156.
[5]Goethes letzte Schweizer Reise, dargestellt von Barbara Schnyder-Seidel. Mit zeitgenössischen Illustrationen. Frankfurt am Main: Insel Verlag, 1980, S. 281.
[6]Fest am Ende des Alpsommers.
[7]Peter von Matt: Die ästhetische Identität des Festspiels. In: Balz Engler/Georg Kreis: Das Festspiel: Formen, Funktionen, Perspektiven. Willisau: Theaterkultur-Verlag, 1988, S. 16ff.