Die Solothurner Ausstellung «Ja, wir kopieren!» könnte kaum aktueller sein. Zwei Tage vor ihrer Eröffnung hat der US Supreme Court in einem von der Kunstwelt bang erwarteten Urteil entschieden, die Bearbeitung einer Fotografie durch Andy Warhol sei illegal.
«Cultural appropriation» ist ein vieldiskutierter und zunehmend unsinnig skandalisierter Tatbestand. Dabei gab es nie eine Kunst ohne Aneignung. Ein Johann Sebastian Bach hat nicht nur sich selbst, sondern auch andere ausgiebig «parodiert», was damals nichts anderes meinte als die Umgestaltung eines Musikstücks zu einem neuen Zweck oder einer neuen klanglichen Form. Auch in der bildenden Kunst und erst recht in der Architektur war das Nachbilden anerkannter Werke immer gängige Praxis. Die in den 1960er-Jahren aufgekommene «Appropriation Art» behauptete deshalb gar nicht erst, eine Innovation zu sein, sondern brachte lediglich einige in der Postmoderne mit neuem Selbstbewusstsein gepflegte alte Verfahren auf ebendiesen Begriff.
Kongeniale Auseinandersetzung
Die Solothurner Schau setzt ein bei «klassischen» Formen des Kopierens. Ein wunderbares Beispiel liefert Rosina Kuhns kongeniale Auseinandersetzung mit Giovanni Battista Tiepolos Deckenfresken, deren gestische und atmosphärische Substanz sie ins Eigene übersetzt.
Das Kopieren von Werken gehört seit jeher zur künstlerischen Ausbildung. Es soll Eigenständigkeit nicht ersticken, sondern vielmehr ermöglichen. Doch Arbeiten wie Rosina Kuhns «Andromeda» haben mit solchen akademischen Exerzitien wenig zu tun. Hier findet ein Dialog auf Augenhöhe statt. Er verwebt die Hinterlassenschaft eines Genies der Barockmalerei mit der ganz anderen künstlerischen Position einer heutigen Malerin. Das Ergebnis dieses Austauschvorgangs kann man auch geniessen, ohne Tiepolo zu kennen. Doch wer von der Entstehung von Rosina Kuhns Werkserie weiss, kann beim Betrachten gewissermassen diesen Dialog mit-sehen.
An der Grenze zum Plagiat
Eine ganz andere Form des Kopierens vertritt in der Ausstellung die 2014 verstorbene US-Amerikanerin Elaine Sturtevant, eine Exponentin der Appropriation Art. Ihre Schwarz-in-Schwarz-Version von Warhols fröhlich-bunter «Flowers»-Serie treibt es mit der Nachahmung bis an die Grenze des Plagiats: Warhols ikonische grossflächige Blütenformen übernimmt sie eins zu eins, nur die Farbe ist gewechselt; die allerdings radikal.
Als Sturtevant ihre «Warhol Flowers» 1965 erstmals ausstellte, erntete sie Empörung – allerdings zu Unrecht, denn Warhol selbst hatte ihr eines seiner Drucksiebe zur Verfügung gestellt, damit sie ihn kopieren konnte.
Um Warhol dreht sich auch die gerade kürzlich vom Obersten Gericht der USA getroffene Entscheidung über die Grenzen zwischen Urheberrechtsschutz und Kunstfreiheit im Umgang mit vorhandenen Werken. Der bundesrichterliche Spruch hat eine lange Vorgeschichte und dürfte in der Kunstwelt, und zwar nicht nur in der amerikanischen, lang anhaltende Schockwellen auslösen.
Lynn Goldsmith gegen Andy-Warhol-Stiftung
Die Fotografin Lynn Goldsmith hatte 1981 den Popstar Prince porträtiert. Eines der Bilder kaufte die Zeitschrift «Vanity Fair» für 400 US-Dollar, um Andy Warhol den Auftrag zur Bearbeitung des Bildes zu geben in der Art, wie er es schon mit Porträts von Mao oder Marilyn getan hatte. Diese Warhol-Version erschien unter dem Titel «Purple Fame» in «Vanity Fair», wobei die Fotografin als Ko-Autorin erwähnt war.
Bis 1987 produzierte Warhol 16 Fassungen des Prince-Porträts. Gegen eines davon klagte Lynn Goldsmith dreissig Jahre später – noch eben vor Ablauf der Verjährung – gegen die nach Warhols Tod als Nachlassverwalterin eingesetzte Andy-Warhol-Stiftung.
Konträre juristische Argumentationen
Juristisch ging es bei dieser Urheberrechtsklage darum, ob bei Warhols Arbeit ein «fair use» vorliege, also zwischen Fotografie und Bearbeitung eine ausreichende Differenz bestehe, damit letztere als eigenständiges Werk gelten könne. Die erste gerichtliche Instanz wies Goldsmiths Klage ab. Der Richter entschied, die Grafik sei sofort als «ein Warhol» erkennbar und damit eigenständig.
Die nächsthöhere Instanz entschied jedoch anders. Entscheidend sei nicht das Urteil von Kunstsachverständigen, sondern der spontane Eindruck. Und für diesen seien eben beides Porträts von Prince. Die Bearbeitung unterscheide sich vom Originalfoto nicht wesentlich. Somit sei das Urheberrecht von Lynn Goldsmith verletzt und Warhols Grafik illegal.
In seiner Begründung stellte das Gericht durchaus differenzierte Überlegungen an. So verglich es Warhols berühmte Campbell-Suppendose mit seiner Prince-Grafik und befand, letztere könne die Verkaufsaussichten der Fotografin beeinträchtigen und ihr dadurch Schaden zufügen, während bei der Suppendose ein solcher Effekt nicht zu erwarten sei. Aus einem vorliegenden Bild sekundär «einen Warhol» zu machen, begründet laut der zweiten Instanz kein eigenes Recht. Würde man ein solches gelten lassen, so liefe dies auf ein «Plagiatsrecht für Berühmtheiten» hinaus.
Schockwellen in der Kunstwelt
Die Frage, ob das nach dem zweitinstanzlichen Urteil angerufene Oberste Gericht der USA dieses Urteil stützen würde, bewegte weite Kreise der amerikanischen Kunstszene. Jürgen Kaube meinte in der FAZ: «Entschiede der Supreme Court zugunsten der Fotografin, gäbe das einer Menge von Künstlern Stoff zum Nachdenken.» (FAZ, 13.10.2022)
Diesen Stoff hat das Oberste Gericht jetzt geliefert. Nach dem endgültigen Richterspruch hat Andy Warhol eine Urheberrechtsverletzung begangen. Bundesrichterin Elena Kagan hatte diesen äusserst weitreichenden Entscheid vergeblich zu verhindern versucht. Sie entsetzte sich hinterher, das höchste US-Gericht habe Warhol «wie einen Instagram-Filter» eingestuft.
Die Warhol-Stiftung kam mit ihrer Position, es handle sich um «fair use», nicht durch. Das Urteil vom 18. Mai 2023 ermöglicht es im Grundsatz, gegen Dutzende von Warhol-Werken zu klagen. Die Folgen nicht nur für das Ausstellen von und den Handel mit Warhol-Werken, sondern auch für zahllose weitere Künstlerinnen und Künstler sind derzeit unklar. Gewiss ist nur, dass eine riesige Unsicherheit heraufbeschworen wurde.
Kopieren: ein weites Feld
Das Prinzip des Kopierens in der Kunst ist nun aber zu vieldeutig und vielschichtig, als dass es grundsätzlich und in all seinen Facetten mit dem Urheberrecht in Konflikt geraten könnte. Und in dem einen Fall, da dieser Widerstreit vor dem Supreme Court nun ausgefochten wurde, bleibt das ungute Gefühl, die Rechtsprechung habe ihren Gegenstand in unzulässiger Weise auf etwas juristisch Greifbares reduziert und dadurch verfälscht.
Bildende Kunst, nach klassischem Verständnis aufgefasst als «Mimesis» (Nachahmung der Natur), weist auch in zeitgenössischen Lesarten Elemente des Nachbildens auf. Kunst arbeitet immer mit Material, das – in unterschiedlicher Weise – «gegeben» und eben nicht in einem voraussetzungslosen Akt «geschaffen» ist. In diesem grundsätzlichen Sinn hat kein Kunstwerk ganz und gar «originalen» Charakter. Es bezieht sich auf künstlerische Vorbilder oder grenzt sich von diesen ab, reflektiert Natur und Gesellschaft, arbeitet mit Elementen der Wahrnehmung und des Denkens – kurz, es geht in der Kunst nicht um «Creatio ex nihilo» (Schöpfung aus dem Nichts).
Abgelegter Heroismus
Das wurde in der «heroischen Moderne» ab Mitte des 20. Jahrhunderts durchaus etwas anders gesehen. Bereits in der klassischen Moderne und verstärkt in Strömungen wie dem Abstrakten Expressionismus und der Minimal Art wurde ein künstlerisches Ethos der um ihren authentischen Ausdruck ringenden schöpferischen Persönlichkeit kultiviert. Alles drehte sich um autonome Kreation oder um das kreative Genie, das in einsamer Mission seiner Vervollkommnung entgegenstrebte und entgegenlitt.
Solche Heroisierung des Schaffensprozesses blieb von Anfang an nicht unwidersprochen und machte ab dem späten 20. Jahrhundert zunehmend einer ironisch grundierten Einstellung der Kunstschaffenden ihrem eigenen Tun gegenüber Platz. In solchen künstlerischen Selbstwahrnehmungen bekam das Moment des Nachbildens und Kopierens ganz selbstverständlich einen prominenten Platz.
Spiel, Witz und Ironie
Entspannter Umgang mit sich selbst und der Kunst spricht mehr oder weniger deutlich aus den meisten der in Solothurn versammelten rund vierzig Positionen. Künstlerische Genialität ist da nicht mehr so wichtig. Vermutlich auch deshalb können manche offenbar ohne grössere Friktionen als Kollektive arbeiten. Ironie lässt sich gut gemeinsam entwickeln. Das Spiel mit Vorgefundenem dämpft verlässlich allfällige Dispositionen zu künstlerischem Heroismus und fördert stattdessen Kritik und Witz.
Anna Stüdeli (*1990 in Bern) nimmt mit ihren verfremdeten Werbeplakaten nicht nur die Konsumgesellschaft, sondern auch menschliche Selbstbilder unter die Lupe. Kopiert sie? Oder «mokiert» sie? Indem Anna Stüdeli ihre Plakatabrisse wiederum auf herkömmlichen Reklametafeln zusammenfügt, transferiert sie das Werbemedium ins Museum und setzt es so einer anders gearteten Aufmerksamkeit aus. Zum Spiel mit Sujets, Attitüden und Idealbildern tritt hier zusätzlich noch das mit Medien.
Noch einen Schritt weiter in dieser Richtung gehen Olia Lialina (*1971 in Moskau) und Mike Tyka mit ihrer zur Internet-Archäologie zu rechnenden Arbeit «Treasure Trove». Sie haben die Hinterlassenschaft der im Netz nicht mehr aktiven Website blingee.com gerettet. Blingee war eine populäre Plattform, auf der man aus Juwelen animierte GIFs kreieren konnte. Olia Lialina und Mike Tyka haben 440 solche individuellen Animationen gesammelt und zu einer Art Juwelen-Wühltisch montiert. Haben sie kopiert? Selbstverständlich, und sie haben daraus ein prachtvolles Bild erschaffen – mit einer Portion Ironie und dem Wink an die Betrachter: So sehen populäre Träume aus.
Die Ausstellung «Ja, wir kopieren!» stellt an die Besucherinnen und Besucher einige Anforderungen, kommt ihnen aber mit strenger Auswahl der Exponate und Vermeidung von Überfülle freundlich entgegen. Auf jeden Fall empfiehlt es sich, das beim Eintritt abgegebene Textheft beim Besuch zu konsultieren.
Kunstmuseum Solothurn: Ja, wir kopieren! bis 27. August 2023,
kuratiert von Katrin Steffen, Direktorin, Meret Kaufmann, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Michael Hiltbrunner, Kulturanthropologe