Konrad Bitterli, seit zwei Jahren Direktor der Winterthurer Kunstmuseen, hatte die Ausstellung über das Gestische in der zeitgenössischen Malerei schon vor Jahren an seinem früheren Tätigkeitsort, im St. Galler Kunstmuseum, machen wollen. In Winterthur, so erklärt er, sei sie nun mit einem entscheidenden Plus an Ressourcen möglich geworden. Allein schon die Ausleihe des als Emblem der Ausstellungsidee fungierenden Lichtenstein-Gemäldes hätte Bitterli in St. Gallen nicht hinbekommen. Nur dank der eingespielten Beziehungen zum Kunsthaus Zürich könne das ikonische «Yellow Brushstroke» nun in Winterthur als Schlüsselbild seiner thematischen Schau gezeigt werden.
Freche Frische, provokative Sprengkraft
Roy Lichtensteins 1965 im Rahmen einer Serie entstandenes Bild ist das wahrscheinlich perfekteste und schönste der Reihe und zählt zu den herausragenden Schätzen der an Höhepunkten gewiss nicht armen Sammlung des Zürcher Kunsthauses. Lichtensteins «Brushstrokes» (Pinselstriche) haben nichts von ihrer frechen Frische verloren. Man kann ermessen, mit welch provokativer Sprengkraft sie auf die in den Sechzigerjahren vorherrschenden Kunstrichtungen Antwort gaben.
Die amerikanische Kunstszene war in der Mitte des 20. Jahrhunderts mit dem Abstrakten Expressionismus eines Jackson Pollock oder Willem de Kooning die unbestrittene Avantgarde. Ab Mitte der Fünfziger dann etablierte sich die bis in die Gegenwart ausstrahlende Farbfeldmalerei (Mark Rothko, Barnett Newman) und in den frühen Sechzigern kam die nicht weniger stark nachwirkende Minimal Art (Elsworth Kelly, Agnes Martin) hinzu.
Diese Strömungen definierten um 1965 herum in den USA – und nicht nur dort – das, was in der Nachfolge der Klassischen Moderne als massgebliche zeitgenössische Malerei galt. Gemeinsam ist diesen disparaten Richtungen ein ungebrochenes künstlerisches Ethos, eine Haltung des Ringens um ästhetische Gültigkeit. Wird dieser damals noch selbstverständliche Gestus heute gelegentlich als Ausdruck einer «heroischen Moderne» bezeichnet und ein wenig ins Ironische gezogen, so geschieht dies nicht zuletzt unter Lichtensteins Einfluss.
Ironisierung von Geniekult und Künstlerpathos
Roy Lichtenstein ist ein Kind der Postmoderne. Nicht nur integriert er Elemente von Popkultur und Comics in die Malerei, sondern er legt jeden künstlerischen Heroismus ab. Lichtenstein dekonstruiert nicht allein den genialisch-expressiven Malvorgang, sondern den kreativen Akt als solchen. Seine «Brushstrokes» sind zu emblematischen Zeichen dieser neuen künstlerischen Haltung geworden. Inhaltlich sind sie ironische Reflexe auf Geniekult und Künstlerpathos.
Zugleich aber schliessen diese Bilder formal an die abendländische Tradition der handwerklichen Meisterschaft in der Malerei an. Roy Lichtensteins Bilder sind in altmeisterlicher Perfektion gemalt. In der gewollten Spannung zwischen bissiger Ironie gegenüber der etablierten Kunstwelt und handwerklichem Ethos der Materialbehandlung entsteht die irritierende Wirkung seiner Werke.
Fruchtbare These der Ausstellungsmacher
Das Bestechende an Konrad Bitterlis Ausstellungsidee besteht darin, die Lichtensteinsche Spannung zwischen ironischer Haltung und makelloser Ausführung an ausgewählten Positionen der Gegenwartskunst abzulesen. Damit diese These fruchtbar wurde, hat Bitterli die Vorstellung des Ironischen genau so weit gefasst wie die des Altmeisterlichen. Ironie als künstlerische Haltung meint den distanzierenden Bezug, den reflektierenden Kommentar zu Themen, Motiven und Traditionen, während die Kriterien formaler Kunstfertigkeit für alle heute zur Verfügung stehenden Techniken handwerklicher Bildherstellung gelten.
David Reed nimmt mit seinen «Brushstroke Paintings» ganz direkt auf Lichtenstein Bezug. Wie sehr seine Bilder Kunstgeschichte und gegenwärtige visuelle Kultur verarbeiten, belegen seine als Ausstellung in der Ausstellung präsentierten Zeichnungen. Sie sind nichts anderes als penible Vorbereitungen seiner vordergründig spontan erscheinenden Arbeiten. Das Gestische seiner Bilder ist nicht nur sorgfältig entwickelt und geplant. Es ist zudem so akkurat ausgeführt, dass man es wiederum als ironischen Kommentar zu einer in freier Expressivität agierenden genialisch-heroischen Kunst lesen kann.
Noch weiter in der Spreizung zwischen erstem Anschein von expressiver Wildheit einerseits und technisch anspruchsvoller und restlos kontrollierter Machart andererseits gehen die in Winterthur gezeigten Stücke von Katharina Grosse.
Ihre Bilder zeigen weit ausholende Gesten, sind aber in aufwändigen Verfahren gesprüht, aus unterschiedlich emulgierenden Farbschichten aufgebaut, mit Abdeckungen und Überlagerungen komponiert. So entstehen komplexe Gebilde, an denen man sich kaum sattsehen kann. Geht man nahe heran, so taucht man ein in eine artifizielle Wunderwelt mit einer endlosen Varietät von visuellen Schönheiten. Aus der Distanz jedoch fallen die Schichtungen der Komposition ins Auge, die eine geradezu räumliche Wirkung erzeugen.
Methodisch experimentierende Kunstproduktion
Gut vertreten ist auch Gerhard Richter, und zwar mit vier zauberhaften Hinterglas-Malereien sowie drei auf Leinwand gemalten Ölbildern, die nach dem Farbauftrag mit Spachtel und Rakel bearbeitet wurden. Beide Maltechniken bringen Zufallsmomente mit sich. Doch im Unterschied zum Abstrakten Expressionismus etwa eines Pollock geht Richter höchst kontrolliert vor. Er experimentiert, variiert methodisch Ausgangslage und Bearbeitung, geht mit solchen Arrangements regelrecht in Produktion – und erst wenn er eine Wirkung sieht, die ihn überzeugt, ist ein Bild fertig.
In dieser zwischen das Gestisch-Expressive und das Technisch-Handwerkliche eingeschobenen Reflexionsstufe liegt bei Richter das sich selbst Beobachtende des Malprozesses, die Brechung des «heroischen» Künstlertums. Sie ist der Reflex auf die Lichtensteinsche Ironie – und eine der offensichtlichen Bestätigungen der These, die hinter dieser Ausstellung steht.
Auf Werte der Meisterschaft zurückverwiesen
In der Tat gelingt es den Winterthurer Ausstellungsmachern, einen Grundzug zeitgenössischen bildnerischen Schaffens zu beleuchten. Die Zeiten des unbedingten existentiellen Ernstes und des selbstgewissen ästhetischen Anspruchs – beides gehörte quasi zur Grundausstattung einer klassischen Künstlerpersönlichkeit – sind vorbei, aufgelöst im Säurebad postmoderner Kritik, dekonstruiert unter den Attacken des Generalverdachts auf leere Posen und verschleiernde Phrasen.
In dieser geistigen Lage scheint der Kunst wenig anderes zu bleiben als permanente Bereitschaft zur kritischen Selbstbeobachtung und Rückkehr zu handfesten Valeurs der althergebrachten Meisterschaft des Malens. Die Kunst ist zusehends selbstironisch geworden – und im gleichen Zug auch auf neu-alte Art schön.
Beides kommt den Besuchern im White Cube des Gigon-Guyer-Anbaus des Kunstmuseums Winterthur geradezu überwältigend entgegen: einerseits das Spielerische, das zahllose Referenzen Aufrufende und sich selbst Ironisierende des zeitgenössischen Bildermachens; andererseits die opulente Pracht, das Ideenfeuerwerk und die in ihrer Perfektion kostbare Materialität der Werke.
Frozen Gesture – Gesten in der Malerei, 18. Mai bis 18. August 2019, Kunst Museum Winterthur | Beim Stadthaus, kuratiert von Konrad Bitterli (Direktor), Lynn Kost und Andrea Lutz