Beide sind um die 70 Jahre alt und damit Altersgenossen und gehören zu den bedeutendsten Schweizer Fotografen ihrer Generation. Daniel Schwartz und Guido Baselgia gehen der Fotografie konsequent auf den Grund, allerdings auf ganz verschiedene Weise.
Der 1955 in Solothurn geborene Daniel Schwartz, Absolvent der Fotoklasse der Kunstgewerbeschule Zürich, ist weltweit gereister Fotograf, der sich in seinen Bildern menschlichen Lebensbedingungen vor allem im zentralasiatischen Raum zuwendet. Im Kunstmuseum Luzern widmet ihm Beat Wismer als Gastkurator eine kleine, aber dichte, wohlüberlegte und alle Arbeitsphasen umfassende Retrospektive mit dem Titel «Tracings».
Der Bündner Guido Baselgia, 1953 in Pontresina geboren, ebenfalls Absolvent der Zürcher Fotoklasse, verbrachte lange Jahre in Zug und lebt heute in Malans. Er erforscht in seinen Langzeitprojekten den urbanen Raum der Kleinstadt Zug, vor allem aber extreme und meist menschenleere Randregionen der Welt – zuerst das Hochgebirge seiner Heimat, des Engadins, denn den hohen Norden Europas, das bolivianische und peruanische Hochland oder den Regenwald des Amazonasbeckens. Zugs Museumsdirektor Matthias Haldemann präsentiert in der Ausstellung «Lichtstoff und Luftfarben» die Ergebnisse von Baselgias neuer Beschäftigung mit dem für die Fotografie grundlegenden Phänomen Licht und Farbe. Er verbindet diese Fotografien mit einem Blick auf das ganze Lebenswerk Guido Baselgias.
Das Schaffen beider Fotografen wurde mit bedeutenden Preisen ausgezeichnet. Beide nehmen in ihrer Arbeit aufgrund ihrer je eigenen Erfahrungen eine Weltsicht in den Fokus, setzen jedoch unterschiedliche Akzente. Daniel Schwartz blickt, bei aller perfekten Komposition seiner Bilder, mit nie erlahmender Anteilnahme, aber doch in spontan-rascher Reaktion auf konkrete Gegebenheiten auf den Menschen und sein gefährdetes Leben in Krisenregionen. Er nimmt so die Tradition der grossen Schweizer Reportagefotografie auf, etwa Werner Bischofs (1916–1954). Guido Baselgias Werk vor allem der letzten Jahre steht für eine philosophisch anmutende Sicht auf die Welt, die er sich in bedächtigen und intensiven Langzeitbeobachtungen erarbeitet hat. Beide Fotografen halten trotz der stürmischen Flut moderner elektronischer Bilderzeugungen der (langsamen) analogen Fotografie die Treue. Baselgia allerdings erweist sich als alchemistischer Tüftler, der das Experiment mit Licht und Farbe ins Extreme treibt.
Daniel Schwartz
Im Kunstmuseum Luzern ist der langgestreckte Saal, in dem Beat Wismer Daniel Schwartz’ Werk ausbreitet, so in einzelne Kammern unterteilt, dass die Besucherinnen und Besucher die Werke aus intimer Nähe erleben, dass aber gleichzeitig Durchblicke zu benachbarten Kammern und damit stets auch die Wahrnehmung des Gesamtzusammenhanges und ein vergleichendes und abwägendes Betrachten möglich werden, was den Erkenntnisgewinn aus einem Ausstellungsbesuch erhöht. Dieser Strategie entspricht auch der Wechsel der Formate der Fotografien: Viele Fotos sind klein und unprätentiös gerahmt, als stammten sie vom Durchforsten des Bildarchives von Daniel Schwartz.
Andere wieder setzen im Grossformat deutliche Akzente. Die zeitliche Spannweite ist gross und reicht von den späten 1970er Jahren und damit von der klaren Objektfotografie, wie sie in der von Hans Finsler (1891–1972) geprägten Tradition der Zürcher Schule gepflegt wird, bis in die jüngste Zeit. Beispiele für Schwartz’ Frühwerk sind ein an Edward Weston (1886–1958) erinnerndes, perfektes Bild von Peperoni und einige wenige Aufnahmen von skulpturalen Objekten. Bald zieht es Schwartz aber ins Ausland und vor allem zu den Menschen in Zentralasien, die in den von politischen und ökologischen Krisen geprägten Regionen ein prekäres Leben zu führen gezwungen sind.
Ein ganz gewöhnlicher Tag
Schwartz’ Bilder erschliessen sich nicht auf Anhieb. Sie zu betrachten erfordert Zeit und Entdeckerfreude. Der Fotograf ist kein auf die Sensation ausgerichteter Kriegsreporter. Es scheint, als halte er eher «Seitenblicke» fest, und als bezeuge er ein Nebengeschehen, das aber, sieht man genauer hin, durchaus zur Hauptsache werden kann. Der Titel «Ein ganz gewöhnlicher Tag, Kabul, Afghanistan, 12. September 2012» für das beinahe skurril wirkende Bild eines Marktgeschehens mutet programmatisch an: Immer wieder zeigt Schwartz den «ganz gewöhnlichen Tag» – eine pessimistische Sicht der Dinge insofern, als sie besagt, dass eben auch all das Leid, das der Fotograf in seinen Bildern beklagt (kurdische Flüchtlinge, das tote Kind als Überschwemmungsopfer, die Kohlearbeiterinnen in China, Szenen in Slums von Jakarta, die Folgen der Flutkatastrophen und der Trockenheit oder der Gletscherschwund), «ganz gewöhnlicher Alltag» sind.
Dazu fügt sich, dass sich Daniel Schwartz auch der Landschaft widmet, dass sich aber auch da die «Hauptsache» oft kaum erschliesst. Beispiele: Auf einem Bild entdecken wir eine Geröllhalde und einen Gletschertisch. Dass auf diesem Zeugen grosser erdgeschichtlicher Veränderungen bis auf die Zähne bewaffnete Taliban-Krieger sitzen, entdeckt nur, wer sehr genau hinsieht. Oder: Ein Bild zeigt das Bamiyan-Tal westlich von Kabul – und nur wer den Details nachspürt, sieht im Hintergrund die Nischen, in denen die 2001 von den Taliban zerstörten Buddha-Statuen standen.
Guido Baselgias «Lichtstoff und Luftfarben»
Mit der Überraschung wartet das Zuger Kunsthaus erst ganz am Schluss auf. Da, am Ende der grossen Retrospektive, ist den neusten Arbeiten Guido Baselgias zu begegnen. Hier setzt sich der Künstler, der sich in seinen grossen Zyklen stets der Schwarz-Weiss-Fotografie bediente, auf neue Art mit den Phänomenen Licht und Farbe auseinander. Zu sehen sind Landschaftsaufnahmen des Zyklus «Luftfarben», welche die Fotografie gewissermassen auf ihre «archaischen» Anfänge zurückführen. Baselgia schuf sich eine Camera Obscura, ein Holzkistchen mit einem kleinen runden Loch, durch das der Lichtstrahl in die Blackbox eindringt und auf das an der Rückwand montierte lichtempfindliche Papier das Bild der Landschaft projiziert.
Eines dieser Bilder zeigt den abendlichen Blick über den Silsersee gegen Maloja. Das Sonnenlicht entschwindet, die Konturen sind unscharf, die Farben von unwirklicher Schönheit, und doch ist das Bild, das wir so von blossem Auge nicht sehen könnten, nichts anderes als das Resultat des Auftreffens des Lichtstrahls auf das Fotopapier: Die gültige Neuinterpretation eines äusserst beliebten Motivs der neueren Kunst – von Ferdinand Hodler über Giovanni und Alberto Giacometti, Otto Wyler und sehr vielen anderen bis zu den Fotografen Albert Steiner und Emil Meerkämper und zu Tausenden Amateurknipsern.
Fotografie im Urzustand
Das ist Fotografie im Urzustand, Schreiben mit Licht, und damit auch Wahrnehmung am Beginn der Erkenntnis. Hat sich der Fotograf einmal für dieses technisch einfache Vorgehen entschieden, lässt sich das Ergebnis – die Farben, aber auch die verwischten Konturen – nicht mehr beeinflussen. Dieses Ergebnis aber bietet ihm und den Betrachterinnen und Betrachtern die Gelegenheit zum vertieften Nachdenken über visuelle Wirklichkeitsbegegnung. «In der Unschärfe der Welt – die Wirklichkeit erkennen» lautet folgerichtig der Titel einer Camera-Obscura-Aufnahme vom Berninapass, wo Baselgia 2019 auf dem Siloturm des Strassenunterhalt-Stützpunktes eine begehbare runde Camera Obscura mit einem Durchmesser von sieben Metern einrichtete. Die Installation gibt ihm und den Besuchern die Möglichkeit, sinnlich-direkt zu erfahren, wie der durch die kleine kreisrunde Öffnung in den dunklen Raum einfallende Lichtstrahl auf der Wand zum Bild wird.
Die Fotografie als ein Erforschen der Wahrnehmung: Das ist für Guido Baselgia schon seit Jahren ein Anliegen. Das bezeugt eine Heliogravüre von 2006 wiederum vom Silsersee, und das bezeugen auch jene Bilder der Serie «Light Fall», in denen Baselgia den Gang der Sonne visualisiert. «Einen Morgen lang» betitelt er eine Aufnahme von 2012 mit sehr langer Belichtungszeit aus Ecuador. Zu sehen ist ein vertikal aus dem Horizont aufsteigender Lichtstrahl, der festhält, was wir nicht wahrnehmen können: Das senkrechte Aufsteigen der Sonne am Äquator-Himmel.
Galizien und Regenwald
Guido Baselgias Lebenswerk ist breit. Die Zuger Retrospektive dokumentiert es in dieser ganzen Breite und gibt Einblick in Baselgias fotografische Recherchen über Zug und Umgebung oder in seine Bildbegleitung der grossen Sammlungsprojekte des Kunsthauses Zug (Tadashi Kawamata und Richard Tuttle). Gezeigt werden auch Reportage-Arbeiten des Künstlers zum Beispiel über Winzer in Malans und vor allem Resultate von Baselgias ausgedehnten Reisen in Galizien (Süd-Polen und West-Ukraine), die ein eindrückliches Bild des untergehenden Sozialismus in dieser Region zeichnen und letzte Spuren einer vergangenen Welt ostjüdisch geprägten Alltags dokumentieren. Breiten Raum nehmen in der Retrospektive auch Guido Baselgias Fotoarbeiten aus dem Amazonas-Regenwald ein. Sie entstanden 2018 unter extremsten klimatischen Bedingungen und nehmen uns Betrachterinnen und Betrachter gleichsam mit hinein in dieses komplexe und von wirtschaftlich motivierten Eingriffen schwer bedrohte Riesenbiotop. Den Menschen, die hier ihren Lebensraum haben, und die dem Fotografen jene Hilfe leisteten, ohne die er seine Arbeit nicht hätte tun können, widmet Baselgia eine Portraitserie.
Kunstmuseum Luzern: Daniel Schwartz «Tracings». Bis 4. Februar 2024. Publikation «Tracings» mit Texten von Fanni Fetzer, Beat Wismer, Giovanna Calcenzi und Carolin Emcke. Thames & Hudson. 55 Franken.
Kunsthaus Zug: Guido Baselgia «Lichtstoff und Lichtfarben». Bis 4. Februar 2024. Eine Publikation erscheint im Spätherbst.