Als Nebenschauplatz in der Oper sind Kirchen sowie deren Riten und Eigenheiten zwar hochbeliebt. Was wären die «Cavalleria rusticana» ohne die Ostermesse, «Boris Godunow» ohne die Kirchenglocken und die russische Sakralmusik, und was wäre – um nur noch eine der vielen möglichen «kirchenaffinen Opern» zu nennen – der erste Akt von Puccinis «Tosca» ohne Kirche, Sakristan, Ministranten und Seitenaltar von Sant’ Andrea della Valle in Rom? Nebenschauplätze zwar, aber von höchster ästhetischer Bedeutung und Wirkung.
Was an Grenzen stossen kann auf der Opernbühne, ist beispielsweise die direkte Darstellung des letzten Abendmahles, der Kreuzigung oder der Auferstehung Christi. Die Produktion einer «Matthäuspassion» als Ballett-Fassung im Opernhaus verletzt bei manchen bereits die religiösen Gefühle, auch wenn traditionelle Passionsspiele seit Jahrhunderten oder Verfilmungen der Leidensgeschichte Christi spätestens im 20. Jahrhundert zur Normalität der «Kunstfreiheit» gehören.
Ein guter Stoff für dramatische Vorgänge
Dabei ist das Alte und das Neue Testament eine unerschöpfliche Quelle für dramatische Stoffe in individueller und gesellschaftlicher Betrachtung. Im Opernbereich hat dies vor allem die Barockzeit entdeckt und praktiziert. Doch als die Kirchen streng und die Theater hochentwickelt sinnlich wurden, begann das Publikum – und dies vor allem auf Anleitung der Zensurbehörden in Kirche und Staat – scharf zu unterscheiden. Was gehört wohin? Der grosse Georg Friedrich Händel erfuhr es in London. Die Oper kam ideologisch in die Krise, kirchliche Kreise wetterten gegen zu offenkundige Sinnlichkeit auf Theaterbühnen. Musik aber wollte man um jeden Preis hören. Wenn also Opern in den Augen der Puritaner des Teufels waren, hörte man sich halt die Freuden und Leiden der Menschheit in den «Oratorien» an. Vergessen wir nicht: ein Oratorium ist ursprünglich ein nicht-liturgischer Saal, in dem man sich zum Gebet und zur Erfahrung von Höherem und Schönerem, als der Alltag bot, einfand.
Die «Samson und Dalila»-Geschichte aus dem 16. Kapitel des «Buchs der Richter» ist für Bibelkundige so etwas wie ein Krimi aus dem 11. Jahrhundert vor unserer Zeit. Die Israeliten, wankelmütig geworden in ihrem Glauben an den einen Gott, geraten unter die Herrschaft der Philister, die einen Gott mit Namen Dagon anbeten. Sie leiden unter ihrer neuen Knechtschaft in Judäa. Es konnte doch nicht Sinn und Zweck ihres Auszugs aus Ägypten sein, im neuen ihnen verheissenen Land wiederum zu Knechten von anderen zu werden!
Der verführbare Held
Einer, der auf Anleitung der Propheten gegen die Philister rebellierte und als auserwählter Richter den Aufstand gegen sie wagte und sie vertrieb, war Simson – in den späteren Übersetzungen meist Samson genannt. Er war bärenstark, unbezwingbar, und das Geheimnis seiner Stärke lag in den sieben Locken seiner Haarpracht. Samson verlor seine Kräfte, als er sich von Dalila verführen liess und ihr das Geheimnis seiner Stärke verriet. In einer Liebesnacht schnitt sie ihm die Haarlocken ab, Samson konnte von den Philistern überwältigt werden, er wurde gefesselt, man stach ihm die Augen aus, und er musste in einer Mühle Sklavendienste leisten.
Eine erste berühmte Vertonung dieser Geschichte ist Händels Oratorium «Samson», uraufgeführt 1743 im Theater Covent Garden in London. Die Vorlage für dieses Werk war John Miltons Barock-Tragödie «Samson Agonistes» (etwa: Samson, der Kampfestüchtige) aus dem Jahr 1671. Bei Händels Version des Stoffes liegt Samson von Anfang an blind in Ketten und hadert mit sich und dem Schicksal, dass er durch ein Weib verführt werden konnte. Die Israeliten machen Pläne, wie sie Samson aus der Gefangenschaft der Philister wieder befreien könnten. Dieser wird in die Halle eines Tempelsaals gebracht, wo ein Fest zu Ehren des Philistergottes stattfinden soll und bei dem die Anwesenden den gefangenen starken Mann der Israeliten verlachen und verhöhnen wollen. Der Gott der Israeliten verleiht ihm jedoch nochmals die alte Kraft: Samson schiebt die zwei tragenden Säulen des Tempels auseinander und begräbt 3000 Philister und sich selbst unter den Tempeltrümmern.
Die romantische Variante
Als Camille Saint-Saëns (1835–1921) den Stoff 1868 ebenfalls aufgriff, nunmehr jedoch für eine Oper im Sinne und im Stil der französischen romantischen Tradition, brauchte es einen langen Weg, um dieses Meisterwerk bei den Franzosen heimisch werden zu lassen. Es vergingen neun Jahre, bis das Werk zur Uraufführung kam, dies nicht in Paris, sondern in der Direktionszeit von Franz Liszt am Weimarer Hoftheater, und – wie zu jener Zeit üblich – nicht in französischer, sondern in deutscher Sprache. Erst 1890 konnte man das Werk in Paris in der Originalsprache hören. Diese Pariser Erstaufführung wurde allerdings für Saint-Saëns zum durchschlagenden Erfolg. Von den 13 Opernwerken des Komponisten ist «Samson et Dalila» das einzige, das sich im Repertoire der grossen Opernhäuser der Welt bis heute zu halten vermochte.
Es erstaunt nicht, dass sich von Händel zu Saint-Saëns eine interessante Verschiebung ergab. Anstelle der heilsgeschichtlichen Aspekte des Stoffes kam nun dessen erotisches Potential zum Vorschein. Nicht mehr die Chöre der Israeliten und der Philister in ihren Anrufungen des wahren Gottes stehen im Zentrum des Werkes, so schön der Organist und Komponist Saint-Saëns auch diese einzubinden verstand. Angel- und Drehpunkt des Werkes ist auch nicht mehr Samson, der zu Fall gekommene Held der Israeliten. Im Zentrum dieser Oper steht die Figur der Verführerin Dalila, für die der Komponist und sein Librettist Ferdinand Lemaire in allen drei Akten geradezu Paradeszenen musikalischer Darstellung unwiderstehlicher Leidenschaft und sexueller Gier schufen.
Das bekannteste Stück des Werkes ist bis heute mit Sicherheit die Verführungsarie der Dalila aus dem 2. Akt der Oper, die mit der Anfangszeile beginnt: «Mon cœur s’ouvre à ta voix – Mein Herz öffnet sich deiner Stimme». Wir sind im Garten von Dalilas Haus im Tal Sorek. Samson ist ihrem Zauber verfallen, sie dagegen nur darauf aus, den Helden wieder zum Knecht zu machen. Wenn wir moralische Falschheit in der Opernwelt suchen: Bei den Männern wäre dies in ihrer stärksten Verkörperung vermutlich Verdis Jago aus «Otello», bei den Frauen ist es gewiss die Dalila von Saint-Saëns. Eine falsche Schlange, wie sie nicht verführerischer auftreten könnte!
Musikalisch beseligenden Liebestaumel
Wie umgarnt man den Partner musikalisch? Dafür gibt es kaum ein geeigneteres Beispiel als diese Arie der Dalila. Ihr Herz öffnet sich der Stimme des Geliebten wie die Blumen den Küssen der Morgenröte. Um ihre Tränen zu trocknen wolle sie, dass er immer zu ihr zurückkehre, seine Liebesschwüre wiederhole, die ihr ganzes Glück bedeuten würden. Die zwei Schlüsselworte von Dalilas Verführungsgesang lauten: «tendresse» – Zärtlichkeit – und «ivresse» – Liebestrunkenheit. Ihr Herz schwanke wie ein Ährenfeld in der sanften Brise. Kein Pfeil fliege so schnell in sein Ziel wie Dalilas Herz in die Arme von Samson. «Ach sei zärtlich zu mir, mach mich trunken vor Glück!», fleht sie.
Über den musikalisch beseligenden Liebestaumel dieser Musik soll der Wiener Musikkritiker Julius Korngold bewundernd gespottet haben: «Eine Musik, die auf der Zunge zergeht – feinste Himbeercreme in Des – und die doch auch die Linie der Empfindung überzeugend nachzeichnet.» Das muss erst einmal jemandem einfallen: diese chromatischen Abstiege der Holzbläser, diese liebkosend-zarten Streicherpassagen, diese einschmeichelnden Harfenklänge, die Soloklarinette zwischen den zwei Strophen, alles höchst präzise im Dienste erotischer Umgarnung! Da braucht sich ein Komponist nicht zu verstecken, wenn ihm solche Verrückung und solche Verzauberung gelingen. Ein Mann, selbst ein Kriegsheld, müsste aus Holz sein, würde er bei solcher Musik nicht schwach und liebeswillig.
Kaum eine grosse Mezzosopranistin des 20. Jahrhunderts hat es unversucht gelassen, diese Musik der Nachwelt mit dem gerade von ihrer Stimme ausgehenden Zauber zu hinterlassen. Die Anzahl der Einspielungen dieser Verführungsmusik ist Legion. Hier wird die geradezu als «Liebesdroge» komponierte Arie der Dalila von der in diesem Jahr verstorbenen grossen amerikanischen Diva Jessye Norman gesungen – mit umwerfender Ausdruckskraft in einer Aufnahme aus dem Jahr 1987.