Seit einigen Wochen mehren sich in Indien Gerüchte, wonach der Dalai Lama, das geistige Oberhaupt des tibetischen Buddhismus, nach Tibet (beziehungsweise China) zurückkehren will. Am 23. November soll er beim Anlass eines Besuchs in Kolkata gesagt haben: „I would return to Tibet at once if China agrees.“
Neue Konzilianz
Es ist nicht das erste Mal, dass er den Wunsch ausspricht, in seine Heimat zurückzukehren. Aber es ist das erste Mal, dass er diesen Wunsch ohne Wenn-und-Aber äussert. Bisher waren ähnliche Aussagen immer verbunden mit Bedingungen, die die Ernsthaftigkeit der Absichtserklärung in Frage stellten: China muss den Tibetern die freie Ausübung ihrer Religion gestatten, die Kultur und Sprache respektieren und politische Autonomie zugestehen.
Seitdem die informellen, aber regelmässigen Treffen zwischen Vertretern des Dalai Lama und der chinesischen Regierung abgebrochen sind, verkamen diese „Bedingungen“ immer mehr zu gebetsmühlenartigen Bittgebeten. Nach den schweren Protestkundgebungen im Innern Tibets kurz vor den Olympischen Spielen in Beijing im Jahr 2008 verschärfte China seine politische und militärische Kontrolle der Autonomen Region Tibet noch mehr. Kaum Jemand glaubte mehr daran, dass die beiden Kontrahenten je eine Kompromisslösung finden würden.
Die jüngste Absichtserklärung kommt nun ohne die üblichen Einschränkungen daher. In seiner Rede in Kalkutta äusserte sich His Holiness überraschend konziliant: „We are not seeking independence. We want to stay with China. The past is past. We will have to look into the future.“
Unbeholfene Formulierung
Und diese Zukunft ist, das weiss inzwischen jeder, chinesisch beherrscht. Allerdings sieht der Dalai Lama auch hierin positive Faktoren – zumindest rhetorisch: China habe „sich der Weltgemeinschaft angeschlossen“, und seitdem habe sich das Land zu „40 bis 50 Prozent“ gegenüber der Vergangenheit verändert, sagte er am 23.November.
Es ist eine unbeholfene Formulierung, und sie kann auch als Indiz gelesen werden, dass die tibetischen Redenschreiber ihre Mühe hatten, Chinas Weg zur Weltmacht Positives abzugewinnen. Denn in Wahrheit hat sich Beijing mit seiner unerbittlichen Härte gegen die Auftritte des „Spalters“ auf dem internationalen diplomatischen Parkett weitgehend durchgesetzt. Selbst Präsident Obama – ein Geistesverwandter des Mönchs – empfing diesen lediglich an einer Hintertüre des Weissen Hauses.
Die Politik Trumps
Was Donald Trump über Seine Heiligkeit denken mag, kann man sich lebhaft vorstellen. Einige Beobachter in Delhi (etwa der ex-Diplomat P. Stobdan im Internet-Portal The Wire) wollen zwar zwischen Trumps Besuch in Beijing Anfang November und der Kolkata-Rede des Dalai Lama einen Kausalbezug herstellen. Aber sie geben zu, dass Trump die traditionelle Unterstützung Washingtons für ein Freies Tibet „auf dem Altar eines besseren Handels-Deals“ wohl liebend gern geopfert hätte.
Trump soll sich laut Stobdan denn auch geweigert haben, den Dalai Lama zu empfangen. Washingtons traditionelle finanzielle Unterstützung für Tibet wurde gestrichen, und der Posten des Special Coordinator for Tibet gehört zu den vielen Stellen im Aussenministerium, die unbesetzt bleiben.
Es ist wahrscheinlich, dass die Kürzung des tibetischen Forderungskatalogs dem neuen Klima in der Weltpolitik mit seiner kruden Verfolgung nationaler Interessen ihren Zoll entrichtet. Und sie geht über Rhetorik hinaus. Vor einigen Monaten hat der Dalai Lama zwei persönliche Emissäre ernannt. Sie werden ihn in Zukunft bei den unzähligen öffentlichen Auftritten überall auf der Welt vertreten.
Entgegenkommen oder Kapitulation?
Die Aufgabe der enormen Reisetätigkeit wurde von den Exiltibetern in Indien mit der angespannten Gesundheit des 82-Jährigen begründet. Sie sei Teil der umsichtigen Nachfolgeregelung, die dieser seit Jahren in die Wege geleitet hat. Aber man kann darin auch ein Entgegenkommen an China sehen. Während Jahrzehnten musste Beijing wütend und machtlos zusehen, wie eine einzige Person dank ihrem moralischen Gewicht (und einer cleveren PR) der stolzen Grossmacht die Stirne bot.
Aber auch der Dalai Lama, der China immer als Gegner, aber nie als Feind betrachtet hat, musste wohl einsehen, dass er mit jedem werbewirksamen Auftritt die chinesischen Machthaber nur noch mehr in die Verhärtung trieb. Es ist also durchaus möglich, dass sein Verzicht auf diese ebenso erfolgreiche wie letztlich nutzlose Waffe der Public Diplomacy ein Entgegenkommen – wenn nicht ein Kapitulationsangebot – darstellt.
Jedenfalls wurde in Delhi aufmerksam notiert, dass eine der ersten Auslandsreisen des einen Emissärs – Samdrong Rimpoche, der ehemalige Tibetan Prime Minister-in-Exile – nach Kunming ging. Er folgte einer Einladung von Yu Quan, dem Vorsitzenden des United Front Work Department, hinter dessen seltsamer Nomenklatur sich das Tibet-Büro der chinesischen Regierung verbirgt.
Der Vater von Xi Jinping und der Dalai Lama
Falls der Dalai Lama – wie immer mit grosser Umsicht – tatsächlich den Plan einer Rückkehr nach Tibet verfolgt, kann man sich fragen: Warum gerade jetzt? Das Alter ist gewiss ein wichtiger Faktor. Aber ist der Augenblick nicht schlecht gewählt angesichts der neuen Machtkonstellation in Beijing? Sie besteht in einer enormen Machtballung in den Händen von Präsident Xi Jinping. Und dieser macht kein Geheimnis aus seinem Willen, das Reich noch stärker zu zentralisieren und ideologisch (sowie militärisch) mit Han-Nationalismus zu kitten.
Kurioserweise ist es nun gerade die Person des Präsidenten, die für einige Beobachter Anlass zur Hoffnung gibt, dass Beijing die Schraube in Tibet lockern könnte. Sie hängt mit Xis Vater zusammen, der in den fünfziger Jahren einmal Vize-Premierminister war.
Der junge Dalai Lama lernte Xi Zhongxun 1954 kennen, als er in Beijing Chinesisch und Marxismus studierte. Das Verhältnis sei so freundschaftlich gewesen, heisst es in einem Reuters-Bericht aus dem Jahr 2012, dass der Dalai Lama ihm eine Uhr geschenkt habe (vermutlich eine indische), die Xi Senior bis in sein Alter getragen habe. Er sei, so der Dalai Lama, „very friendly“ gewesen, „comparatively more open-minded, very nice“.
Das Interesse beider Seiten
Treiben den neuen Grossen Steuermann familiäre Gefühle um? Der chinesische Ahnenkult in Ehren, aber inzwischen weiss man von Zhongxuns Sohn, dass er mit Tradition, Etikette und alten Seilschaften recht unzimperlich umgehen kann. Und wenn man sieht, wie total(itär) die Kontrolle von Tibets Nachbarprovinz Jinjiang ausgestaltet ist, kann man bei Xi Junior nur wenig von der toleranten Minderheiten-Politik des Vaters erkennen.
Dennoch sollte zunächst offenbleiben, ob und wie Xis Tibetpolitik aussehen wird. Eine einverständliche Lösung liegt nämlich im Interesse beider Seiten. Mit einer Rückkehr nach Tibet würde der Dalai Lama gewiss seinen politischen Spielraum aufgeben. Er könnte aber vielleicht als Gegenleistung sein zentrales Anliegen fortsetzen, die spirituelle Komponente des tibetischen Buddhismus weiter zu stärken. Er will ja erklärtermassen vom alten weltlichen Herrschaftsanspruch der Klöster endgültig wegkommen und wäre sicher bereit, dem Herrn des Reichs der Mitte zu überlassen, „was des Kaisers“ ist.
Tauwetter-Faktor
Es könnte dem 14.Dalai Lama auch nützlich sein, den Streit mit Beijing um seine eigene Nachfolge beizulegen. Man weiss, dass beide Seiten ihre eigene Suche nach dem 15.Dalai Lama durchführen. Zwei Konkurrenten für diese zentrale Rolle dürften auf lange Sicht – das heisst für die Zeit nach dem Ableben des 14. Dalai Lama – zu einem Schisma unter Tibetern führen.
Gerade hier liesse sich vielleicht auch für Beijing ein Interesse an einer einvernehmlichen Lösung erkennen. Es kann nicht in Chinas langfristigem Interesse sein, in einer so strategisch gelegenen Region wie dem tibetischen Dach der Welt einen Konfliktherd am Leben zu erhalten oder gar zu vertiefen – umso mehr, als sich Indien immer noch als Auffang- und Operationsbasis für tibetische Dissidenz anbietet.
Unbeirrbare Romantiker wie ich haben inzwischen einen weiteren Tauwetter-Faktor ausgemacht: religiöse Soft Power. Wie im Westen wird der Buddhismus auch in China immer populärer, je reicher und materialistischer der Lebensstil von Mittelklasse und Oberschicht wird. Warum, so mögen sich diese Chinesen fragen, nicht die tibetische Variante dieser Religion wählen, die gewissermassen als hausgemachter Buddhismus reklamiert werden kann? Vielleicht denkt auch Xi Jinpings Ehefrau so – sie soll eine Buddhistin sein.