Das aufs Eis gelegte Verhältnis Schweiz – Europäische Union: Da haben wir die Bescherung!
Zum Einstieg in diese politische Dauerbrenner-Diskussion rufen wir uns in Erinnerung, was die Bundeskanzlei in Bern schreibt: «Die Schweiz ist eine direkte Demokratie. Das Volk ist der Souverän des Landes, also die oberste politische Instanz.» Und: «Das Schweizer Volk stimmt bis zu viermal jährlich über insgesamt rund 15 eidgenössische Volksabstimmungen ab.» (EDA, Präsenz Schweiz 2021)
Das Volk hat das letzte Wort, manchmal. Bei der überraschenden Aufkündigung der Verhandlungen über das institutionelle Abkommen Schweiz-EU (Rahmenabkommen) durch den Bundesrat am 26. Mai 2021 wurde das Volk nicht befragt. Angesichts der enormen Wichtigkeit einer erspriesslichen Zusammenarbeit mit unserem wichtigsten Handelspartner irritiert, dass es auch keine Abstimmung gab. Für diesen Schritt erntete die Landesregierung Unverständnis im Ausland und Kopfschütteln im eigenen Land. Seit 19 Monaten herrscht Eiszeit im Verhältnis unseres Landes zur EU. Der Bundesrat hat die Schweiz in eine Sackgasse getrieben.
Kooperation statt Konfrontation
Schmelzendes Eis infolge Klimaerwärmung verheisst nichts Gutes. Im Fall der festgefahrenen Verhandlungssituation um den Rahmenvertrag könnte eine Eisschmelze jedoch positive Folgen haben: Voraussetzung dazu wäre die Einsicht beider Verhandlungspartner, dass stures Verharren auf dem eigenen Standpunkt kontraproduktiv, ja destruktiv ist. «Töibele» benennen wir diesen Zustand, der eher dem Verhalten von kleinen Kindern entspricht.
Jeder Konflikt, der mit einem Sieger respektive Verlierer endet, ist eine erzwungene Scheinlösung. Wird dieser Kampf dagegen in einer Verhandlungsrunde geschlichtet, bei der beide Seiten ohne Gesichtsverlust vom Tisch gehen können, ist das Resultat lösungsorientiert und zukunftsfähig. Dieses Verhalten wäre eigentlich Erwachsenen zuzutrauen.
Doch wie sagte einst Albert Einstein: «Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.»
Neues statt altes Denken
Der Entwurf des inzwischen begrabenen Rahmenvertrags wäre in einer Volksabstimmung abgelehnt worden, wird immer wieder vorgebracht. Das ist altes Denken. Wer kann schon etwas behaupten, über das gar nie abgestimmt werden durfte? Altes Denken darum, weil es auf «glauben» beruht – glauben heisst «zu wissen meinen». Wer zudem davon ausgeht, dass gewisse helvetische Grundsatzfragen «in Felsen gemeisselt» seien – wie z. B. der Lohnschutz von Gewerkschaftskreisen –, verharrt in Denkklischees des letzten Jahrhunderts. Dies ist nur eine der Einsichten in der Zeitenwende 2022.
Neues Denken heisst in diesem Fall zum Beispiel, wahrzunehmen, wie stark der gegenwärtige Verhandlungsstillstand unserem Land schadet. Da ist einmal das internationale Projekt «Horizon Europe» unter Federführung der Europäischen Kommission. Die primären Ziele von «Horizon Europa» liegen darin, die Forschung in den Bereichen Klimawandel und nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen (SDGs: Sustainable Development Goals) sowie die Wettbewerbsfähigkeit der EU zu stärken. Joël Mesot, Präsident der ETH Zürich, sagt in der NZZ: «Durch die Nichtassoziierung der Schweiz riskieren wir hier, wie auch auf anderen Gebieten, unsere starke Stellung als ‹wissenschaftliches Schwergewicht› einzubüssen.»
Die verdrängten Folgen des Alleingangs
Wer weiter denkt, realisiert, dass die Schweiz zwingend auf einen hindernisfreien Zugang zum Europäischen Binnenmarkt und stabile Beziehungen zur EU angewiesen ist. Die EU ist für unser Land viel wichtiger als umgekehrt. Zudem hat die EU momentan andere Sorgen, als sich weiterhin mit den renitenten Eidgenossen und deren Sonderwünschen herumzuschlagen: Der Ukrainekrieg und dessen Folgen, die gefährdete Energiesicherheit, das China-Problem, der Migrationsdruck und der Klimawandel, um nur einige zu nennen.
Ob der Bundesrat und jene Kreise, die für «Switzerland first!» plädieren, überhaupt realisieren, was auf dem Spiel steht? Die Erosion der ausgehandelten Rahmenbedingungen geht schleichend vonstatten. Bisherige Abkommen werden nicht erneuert. Die Angst im Land vor der Übernahme der Unionsbürgerrichtlinien, einer Lockerung der flankierenden Massnahmen auf dem Arbeitsmarkt oder gar vor einem institutionalisierten Streitschlichtungsverfahren (als wäre der Begriff «Recht» ennet der Grenze ein anderer als bei uns) wirkt lähmend.
Besonders trifft uns die Blockierung des Stromabkommens mit der EU. Die Schweiz – prädestiniert im Herzen Europas liegend – als Schaltstelle kompetent ausgewiesen, die Energieversorgung mit einem Stromabkommen im europäischen Verbund zu koordinieren, amputiert sich selbst die Hände. Jetzt droht der Schweiz, vom europäischen Stromhandel abgekoppelt zu werden. Im Winter 2023/24 werden wir auf die grösste Energiekrise seit 80 Jahren zusteuern, warnen Fachleute. Der Bundesrat schaut zu.
Entgegenkommen statt blockieren
Michael Ambühl, Professor für Konfliktmanagement an der ETH und einst unser erfolgreicher Chefunterhändler für die Bilateralen II, weiss, wovon er redet. Er ist davon überzeugt, dass eine Lösung zwischen Bern und Brüssel möglich ist, und rät der Schweizerdelegation unter Leitung von Livia Leu, «sich bereit zu erklären, den heute geltenden EU-Rechtsbestand mit einigen wenigen Ausnahmen (Lohnschutz und Schutzklausel gegen übermässige Zuwanderung in die Sozialversicherung) zu akzeptieren» (NZZ).
Da frage ich mich dann, ob es zielführend ist, wenn Livia Leu in den Medien verlauten lässt, «die EU versuche Druck aufzusetzen und in der bilateralen Krise müsse sich Brüssel bewegen» (NZZ).
Voraussetzung für einen positiven Neubeginn und erfolgreichen Abschluss eines wie immer genannten Abkommens mit der EU ist, dass die Schweiz sich zusammenreisst und auf einen minimalen Konsens im Land einigen kann. Diese Botschaft geht auch an Pierre-Yves Maillard, Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, einer der wichtigsten Widersacher des Bundesrates.
Unser Verhandlungsweg geht zweifellos via teilweise Übernahme von EU-Recht. Europäisches Recht ist im 21. Jahrhundert nicht grundlegend anders als schweizerisches. Mit einem ersten Schritt in Richtung Versöhnung dürfte die eingangs erwähnte Eisschmelze Tatsache werden. Verständlicherweise will die EU-Kommission aber verhindern, dass sie ein weiteres Mal am Verhandlungstisch sitzen gelassen wird.