Nach dem Tod des Autors erschienen purgierte Versionen des Romans in den USA und in England. Eine weitere Fassung wurde im Jahre 1972 unter dem Titel „John Thomas and Lady Jane“ publiziert. Die für den heutigen Leser massgebliche und ungekürzte Ausgabe erschien erst 1960 bei Penguin Books in London. Das Buch erregte Aufsehen und Empörung, Lobredner und Kritiker kreuzten die Klingen, gegen den Verlag wurde ein Prozess wegen Verbreitung obszöner Schriften angestrengt.
Arbeitermilieu, nicht Oxford Das Werk von David Herbert Lawrence liegt wie ein erratischer Block in der gesitteten literarischen Landschaft der englischen Zwischenkriegszeit. Die zeitgenössischen Schriftsteller entstammten in der Regel den gehobenen Gesellschaftsschichten, hatten an den Colleges der Universitäten Oxford und Cambridge studiert und schrieben ein gefälliges, geistreiches Englisch für die gebildeten Kreise. Lawrence dagegen, geboren im Jahre 1885 im Kohlen- und Erzrevier der Midlands westlich von Nottingham, kam aus ärmlichen Verhältnissen. Der Vater war ein Bergmann, der gern Geschichten erzählte und sein Bier trank. Die puritanisch sittenstrenge Mutter war kleinbürgerlicher Herkunft.
Die Ehe war zerrüttet, und die fünf Kinder wurden zu stummen Zeugen gewalttätiger Zusammenstösse. Die tristen Wohnquartiere der Industriestädte, das Elend der Bergleute, der Lärm der Fördertürme und der Gestank der Hochöfen bestimmen das düstere Bild dieser Kindheit. Wenig erstaunlich, dass Lawrence als einer der ersten europäischen Schriftsteller den Gegensatz von Technik und Natur, von Masse und Individuum, von Reichtum und Armut thematisierte. Nachdem er eine Stelle als Volksschullehrer aufgegeben hatte, entschloss er sich, Schriftsteller zu werden. Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges brannte er mit Frieda von Richthofen durch, der Frau eines seiner früheren Professoren, und heiratete sie.
Das war kein günstiger Zeitpunkt für die Ehe mit einer Deutschen, die aus preussischer Offiziersfamilie stammte. Das Unglück häufte sich und mit ihm die existentielle Not. Der Krieg verstörte Lawrence im Innersten, eines seiner Bücher wurde verboten, man beschuldigte das Ehepaar der Spionage für Deutschland. Sein Leben lang war Lawrence, wie man damals sagte, schwach auf der Brust, und die Kränklichkeit seines Körpers stand früh in qualvollem Widerspruch zur eruptiven Leidenschaft seiner Gefühle.
Die Nachkriegsjahre verbrachten Lawrence und seine Frau in freiwilligem Exil meist im Ausland, in Italien, Australien, Nordamerika, Mexiko. Trotz fortschreitender Tuberkulose blieb Lawrence literarisch produktiv und seine Bücher hatten zunehmend Erfolg. Er starb 1930 in einem Sanatorium in Vence bei Nizza.
Radikal rückhaltlos
D. H. Lawrence’ letzter Roman „Lady Chatterleys Liebhaber“ ist sein bekanntestes Buch, nicht wegen seiner literarischen Qualitäten, die es durchaus hat, sondern wegen der radikalen Rückhaltlosigkeit in der Darstellung des Sexualverkehrs seiner zwei Hauptfiguren. Der Inhalt ist rasch zusammengefasst. Clifford Chatterley, Aristokrat und Industrieller, ist schwer verwundet und sexuell impotent aus dem Krieg zurückgekehrt. Er schreibt literarisch unbedeutende, aber erfolgreiche Erzählungen und vertreibt sich die Zeit mit oberflächlicher Konversation im Freundeskreis. Seine Frau Connie, aus gutbürgerlichem Intellektuellenmilieu stammend, wird sich immer stärker bewusst, wie wenig sie mit diesem Mann verbindet. Obwohl sexuell nicht unerfahren, hat sie noch nie leidenschaftliche Liebe erlebt. Da begegnet sie dem Wildhüter Oliver Mellors, der Frau und Kind verliess, zur Indien-Armee ging und sich nach der Rückkehr in den Midlands niedergelassen hat. Connie und Oliver treffen sich in einem kleinen Forsthaus, und es kommt rasch zu sexuellen Beziehungen. Obwohl Clifford Chatterley seiner Frau gegenüber gesprächsweise bemerkt hat, er würde es akzeptieren, wenn sie von einem andern ein Kind bekäme, verweigert er Connie die Scheidung, als er erfährt, dass sie tatsächlich ein Kind erwartet - von seinem Wildhüter. Mellors wird gekündigt, und er findet Arbeit auf einem Bauernhof; Connie fährt nach Schottland. Beide leben in der Erwartung auf eine glückliche gemeinsame Zukunft.
Es ist offensichtlich, dass für den Autor von „Lady Chatterleys Liebhaber“ nicht die Handlung, sondern die Schilderung der sexuellen Beziehung zwischen den Hauptpersonen im Vordergrund steht. In der lustvollen Vereinigung ihrer Körper erleben die Lady und der Wildhüter die Befreiung von all dem, was das Leben des Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft und zur Zeit des fortgeschrittenen Industrialismus schwierig macht. Man hat vom „sexuellem Realismus“ von Lawrence gesprochen und an Textpassagen wie die folgende gedacht: „‚Du hast’n schönen Hintern‛, sagte er in kehliger, kosender Mundart. ‚Du hast den schönsten Arsch der Welt. Es ist der schönste, allerschönste Frauenarsch! Und jedes bisschen davon ist Frau, das ist sicher.‛“
Liebesakt als religiöse Offenbarung
Doch wichtiger als solcher Realismus ist die hochgestimmte Tonlage dieser Beischlafschilderungen. Lawrence singt das hohe Lied der zärtlichen Verschmelzung im Liebesakt, der alle Vernunft und alle Tagesmüh hinter sich lässt, der bis zur Essenz des Lebens vordringt und die Qualität religiöser Offenbarung gewinnt. Berühmt ist die folgende Passage, welche den gleichzeitigen Orgasmus von Connie und Oliver beschreibt: „Dann, als er sich zu bewegen begann, in der plötzlichen Hilflosigkeit des Orgasmus, erwachten in ihrem Innern ganz neue, fremde, sie durchflutende Schauer. Sie kamen Welle auf Welle, wie das flackernde Überlappen sanfter Flammen, sanft wie Federn, sie liefen aus in leuchtenden Spitzen, köstlich, so köstlich, und ihr Inneres schmolz dahin, zerfloss. Es war wie Glockengeläut, das sich höher und höher bis zum Höhepunkt aufschwang.“ Fast scheint es Connie, nicht ein Mann, sondern eine überirdische, anbetungswürdige Kraft sei in sie eingedrungen: „Er war nur ein Tempeldiener, der Träger und Hüter des strahlen Phallus, ihr Eigentum.“
Man wird in der anspruchsvollen deutschen Literatur der Zwischenkriegszeit nach solchen Stellen vergeblich suchen. In Thomas Manns „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ gibt es die Stelle, wo sich Madame Houpflé mit dem hübschen Liftboy vergnügt: „‚Nenne mich du!‛, stöhnte sie plötzlich, nahe dem Gipfel. ‚Duze mich derb zu meiner Erniedrigung.' " In Joseph Roths „Radetzkymarsch“ raubt die Frau des Wachtmeisters Slama dem jungen Offziersanwärter Carl Joseph von Trotta seine Unschuld: „Er empfing die Frau wie eine weiche, grosse Welle aus Wonne, Feuer und Wasser.“ In Hermann Hesses „Narziss und Goldmund“, einer Lieblingslektüre der Mittelschüler in den fünfziger Jahren, wird Goldmund von der Zigeunerin Lise zum Mann gemacht: „Die holde kurze Seligkeit der Liebe wölbte sich über ihm, glühte golden und brennend auf, neigte sich und erlosch.“ Doch die Ironisierung und Sublimierung solch kurzer Passagen sind nicht Lawrence’s Sache. Er bekennt sich zur instinktiven Tiernatur des Menschen. Zugleich erhöhen das lyrische Pathos und der andächtige Ernst seiner Schilderungen, weit davon entfernt, Pornographie zu sein, den Menschen, statt ihn zu entwürdigen.
Der heutige Leser, wenn dieser pauschale Begriff gestattet ist, wird an Lawrence kaum mehr Anstoss nehmen. Er lebt in einer Zeit, da wenig Filme ohne Beischlafszenen auskommen, da die Anzeigen nicht nur der Boulevardpresse alle möglichen Varianten sexueller Befriedigung anbieten und da man erwägt, an den Ausfallstrassen grosser Städte Freiern und Prostituierten „Verrichtungsboxen“ zur Befriedigung sexueller Bedürfnisse zu errichten. Die Tabus, gegen die Lawrence mit heiligem Ernst ankämpfte, gibt es nicht mehr. Der heutige Leser wird nicht mehr an der offenen Darstellung des Intimen Anstoss nehmen, sondern wohl eher dort, wo das Erhabene der Schilderung seine Glaubwürdigkeit einzubüssen droht. Zum Beispiel bei Passagen wie dieser: „Mit ruhigen Fingern flocht er ein paar Vergissmeinnicht in das schöne braune Vlies ihres Venushügels. ‚So!’, sagte er. ‚Dort sind Vergissmeinnicht an der richtigen Stelle.‘“
Intellektuelle Verteidiger
Im Oktober 1960 wurde vor dem Londoner Schwurgericht gegen den Verlag Penguin Books, der die Publikation von „Lady Chatterleys Liebhaber“ ankündigte, Anklage wegen der Verbreitung pornographischen Schrifttums erhoben. Die Kläger stützten sich auf ein Gesetz, das „moralisch verwerfliche und korrumpierende Literatur“ verbieten konnte, wenn es sich nicht um künstlerisch wertvolle Literatur handle. Unanständige Wörter, sogenannte „four letter words“, waren nun freilich in „Lady Chatterleys Liebhaber“ leicht aufzufinden. Eine Expertise stellte fest: „Das Wort ‚fuck’ oder ‚fucking’ erscheint nicht weniger als 30 Mal, ‚cunt’ 14 Mal, ‚balls’ 13 Mal, ‚shit’ und 'arse’ je 6 Mal, ‚cock’ 4 Mal und ‚piss’ 3 Mal.“ Auch die Tatsache, dass sowohl Connie als auch Oliver ihre rechtsgültige Ehe brachen, war, den Klägern zufolge, verwerflich und nicht geeignet, die öffentliche Moral zu stärken. Wollte der Verlag die Publikation durchsetzen, so musste er die Geschworenen vom literarischen Wert des Buches überzeugen. Das geschah, indem man eine grosse Zahl von prominenten Intellektuellen beizog, die für diesen Werk eintraten, unter ihnen die Schriftsteller Rebecca West und Edward Morgan Forster, den Bischof von Woolwich, Dr. John Robinson, und den Soziologen Richard Hoggart. Ihren Plädoyers gelang es, die Jury vom literarischen Wert des Buches zu überzeugen und damit den Vorwurf der Pornographie zu entkräften.
Der Ausgang des von der Öffentlichkeit mit Spannung verfolgtem Prozesses führte zur posthumen Rehabilitation von Lawrence. Richard Aldington, ein Freund und früher Biograph des Schriftstellers, hatte 1930 noch mit gutem Grund sagen können „Zu seinen Lebzeiten wurde Lawrence von den Engländern gehasst.“ Nach dem Gerichtsentscheid von 1960 wurden in drei Monaten 3 Millionen Exemplare des Romans verkauft, und D. H. Lawrence wurde als das eigenwillige Genie erkannt, das er ist. Der Richtspruch hatte auch weit reichende sozialpolitische Folgen. Er leitete in England die sexuelle Emanzipation der Sechziger Jahre ein, Homosexualität und Abtreibung wurden entkriminalisiert, das Scheidungsrecht wurde liberalisiert und auch die Todesstrafe abgeschafft. Bücher widerspiegeln ihre Entstehungszeit, nehmen aber nur selten sichtbaren Einfluss auf das Zeitgeschehen. David Herbert Lawrence’s Roman „Lady Chatterleys Liebhaber“ ist eine Ausnahme. Er bewirkte Wesentliches – freilich erst Jahrzehnte nach seiner Entstehung.