Wie ist es möglich, dass aus einem Land, das grossflächig eine Gebirgswüste ist, das populärste Cricket-Team der jüngsten WM in Indien hervorging? Und dies nach vierzig Jahren Krieg und einem neuinstallierten Gottesstaat?
Kein Zweifel, das beste Team der soeben beendeten Cricket-WM war das indische. Aber war es auch das populärste? Klammert man das indische Publikum einmal aus und fragt unabhängige Kommentatoren, lautet die Antwort: Nein. Die bei weitem beliebteste Mannschaft, auch wenn sie sich nicht bis in die Halbfinals vorarbeiten konnte, stammte aus Afghanistan.
Als ich zum ersten Mal von der Teilnahme des Taliban-Kalifats hörte, traute ich meinen Ohren nicht. Afghanistan war bisher nur selten in den Sport-Kolumnen der Cricket-versessenen Länder aufgetaucht. Und nun sollte es bereits zu den zehn besten gehören, noch stärker als etwa die West Indies, die es nicht an die WM geschafft hatten?
Kuriose WM-Teilnahme
Afghanistan ist, wenn man überhaupt von einem Nationalsport sprechen kann, eine Fussball-Nation. Auch hier gelang es dem Land aber noch nie, in die internationalen Spitzenränge zu kommen. Anders als in Indien und Pakistan spielten Kinder in den staubigen Dorfstrassen nicht mit einem Cricket-Schläger, sondern jagten einem grossen Ball hinterher. Die Erklärung war einfach: Weder Afghanistan noch dessen Nachbar Iran waren britische Kolonien gewesen.
Was die WM-Teilnahme eines afghanischen Teams noch kurioser machte, war das gewichtige Detail, dass es gar nicht von der Taliban-Regierung nominiert worden war. Und wenn es in der Ausscheidungsrunde einen Sieg davontrug, legten sich Spieler die rot-schwarz-grüne Nationalflagge der letzten demokratischen Regierung um die Schultern, und nicht die weisse Taliban-Kriegsflagge mit Koran-Sure. Noch besser: Da für die Taliban Musik anti-islamisch ist, gilt dies auch für die Nationalhymne. In den Stadien erklang die alte Melodie.
Koransprüche, Waffen
Die Erklärung für diese bizarre Konstellation liegt (einmal mehr) in der Migration. Afghanistan kann für sich den traurigen Spitzenrang eines Migrationslands beanspruchen, und dies nicht erst für die letzten paar Jahre. Die grosse Flüchtlingsbewegung begann bereits nach 1979, als die Sowjetunion das Land besetzte. Ihr Ziel war nicht der westliche Nachbar Iran, wo soeben die Islamische Revolution stattgefunden hatte, sondern Pakistan. In dessen Grenzregion lebten verwandte Stammesgruppen, und der grösste Teil des Handels lief über die pakistanische Hafenstadt Karachi.
Nach dreizehn Jahren Krieg wurde 1992 die Leiche des letzten von den Sowjets eingesetzten Staatspräsidenten durch die Strassen Kabuls geschleift. Afghanistan war wieder frei. In Peshawar, Quetta und Karachi waren die Flüchtlingslager in den dreizehn Jahren zu städtischen Slums mutiert. Die dort geborenen Kinder lernten nicht nur ihren Stammesdialekt, sondern auch Urdu. Hier rekrutierten die Mudschaheddin ihre späteren Kämpfer, und in den von Saudi-Arabien gesponserten «Madrassen» lernten die kleinen Islamschüler – «Talib» – neben Koransprüchen ebenfalls den Umgang mit Waffen.
Karriere im Ausland
Doch in den Gassen der Zeltlager lernten die Buben auch … Cricket. Der pakistanische Nationalsport flimmerte über jeden billigen Fernseher und war oft die einzige spielerische Abwechslung im Alltagselend der Lager. Die pakistanischen Topspieler wurden auch für die jungen Afghanen zu Helden, denen man nacheifern wollte. Wie in schier jedem südasiatischen Dorf wuchsen talentierte Spieler heran, die von Lokal- und dann Provinzmannschaften angeheuert wurden und damit die Familie ernähren konnten.
Einzelne Spieler schafften es bis in Spitzenmannschaften und wurden ins Ausland – nach England, Sri Lanka, Indien, Zimbabwe – geholt. Nachdem die Taliban 2001 vertrieben worden waren, landeten viele in ihrer afghanischen Heimat, die sie noch nie gesehen hatten. Der Hunger nach Abwechslung und Freiheit – Sport, Musik, Tanz, Kleidung – half auch dem Cricket auf die Beine, selbst wenn es den Fussball nicht zu vertreiben vermochte.
Sprung unter die besten Zehn
Doch die Taliban kehrten wieder zurück, zuerst in einem aufreibenden Partisanenkrieg, 2021 dann auf dem dipomatischen Parkett, als sie in Katar die kriegsmüden USA gekonnt austricksten. Die «Remigration» von Pakistan zurück nach Hause drehte sich ein weiteres Mal um. Allein nach dem Einmarsch der Taliban in Kabul im August 2021 waren erneut 600’000 Afghanen auf der Flucht. Ihr hauptsächliches Ziel war wiederum Pakistan. Dort lebten immer noch anderthalb Millionen Afghanen, viele von ihnen ohne Aufenthaltsbewilligung. Zu den Migranten zählten auch viele Cricketspieler.
Sie fanden Unterschlupf bei Kollegen, die mit dem Sport inzwischen weltweit gutes Geld verdienten. Einige der bekanntesten Spieler stellten, unterstützt von verschiedenen Landesverbänden, dem «International Cricket Council»(ICC) den Antrag, das Team als Nationalteam anzuerkennen. Und gegen die Erwartungen aller Experten schafften sie den Sprung unter die besten zehn, die vor Monatsfrist in Indien um den WM-Titel kämpften.
Politischer Ehrgeiz
Für die Wettbüros blieben sie Aussenseiter, willkommene Punktelieferanten für die «Big Boys». Doch dann spielten sie plötzlich immer besser, getragen von ihrem Willen, für ihre weltweit verfemte Heimat ein klein bisschen internationalen Respekt zu erkämpfen. Und je besser sie spielten, desto mehr fand das Publikum Gefallen an diesen Underdogs. Viele Fans kleideten sich statt in indische oder englische oder südafrikanische Farben in jene einer Flagge, die es offiziell gar nicht mehr gab. Nachdem die Mannschaft vier Gruppenspiele gewonnen hatte, fehlte ihr am Ende nur ein Sieg, um in die Halbfinals vorzustossen. An Australien kamen sie nicht vorbei.
Den grössten Applaus erntete das Team im Spiel gegen Pakistan, und in keinem spielten sie besser. Es ging nicht nur darum, dem eigenen sportlichen Vater zu zeigen, dass die Ziehsöhne nun auf Augenhöhe spielten. Der Ehrgeiz war auch ein politischer. Denn nur einige Monate zuvor hatte die pakistanische Regierung beschlossen, alle Afghanen, die nach 1992 – dem Siegesjahr der Mudschaheddin – ins Land geflüchtet waren, wieder in ihre angestammte Heimat zurückzuschicken. Viele Spieler hatten öffentlich gegen diese rabiate Zwangsevakuation protestiert. Bereits wurden über 200'000 Menschen an die Grenze gestellt. Viele von ihnen werden zweifellos im nächsten Jahr in Flüchtlingsbooten im Mittelmeer sitzen.
Vor dem wirtschaftlichen Absturz?
Die Regierung tat dies ungeachtet der Tatsache, dass Afghanistan nach jenem Sieg vor dreissig Jahren in einen weiteren Bürgerkrieg unter den Mudschaheddin gezogen worden war, dann den amerikanischen Invasionskrieg, und schliesslich in den Religionskrieg der Taliban. Pakistan fühlt sich berechtigt dazu, seit die neuen Herrscher in Kabul einer radikalen pakistanischen Untergrundmiliz, die sich ebenfalls mit dem Taliban-Titel schmückt, Unterschlupf gewährt. Die Verbitterung in Islamabad ist gross, verdanken die Kabul-Taliban ihre Machtergreifung doch wesentlich Pakistan, das ihnen während Jahrzehnten Geld, Waffen und Stützpunkte geboten hatte.
Pakistan sagt mit Recht, dass das Land selber mit dem Rücken zur Wand, wenn nicht vor dem ökonomischen Absturz steht. Die Folgen der verheerenden Regenfälle des letzten Jahres, die ein Drittel des Landes unter Wasser gesetzt hatten, sind noch nicht überwunden. Ein einziges Indiz genügt, um das Ausmass der Tragödie zu illustrieren: Drei Millionen Pakistaner erkrankten laut dem neuesten WHO-Bericht für 2023 an Malaria, verglichen mit 276'000 ein Jahr zuvor. Rund 2’200 Krankenstationen wurden von den Fluten weggeschwemmt – und Abermillionen Moskitonetze.
Auf Kosten Pakistans
Wie immer, wenn es um Pakistan geht, ist Indien nicht weit weg. Im regionalpolitischen Poker sieht es die Chance, seinen Einfluss in Afghanistan auf Kosten Pakistans auszuweiten. Delhi hat seine Botschaft in Kabul wieder geöffnet, und in den vergangenen Tagen erlaubte es den Taliban die Rücknahme ihrer diplomatischen Vertretungen im Land, eine kleine Bresche in der internationalen diplomatischen Quarantäne der Islamschüler.
Die Taliban hatten auch nichts dagegen, als das afghanische Cricket-Team offiziell eine indische Adresse erhielt, ein Trainingszentrum in der Stadt Dehra Dun nördlich von Delhi. Als sich an der WM die ersten sportlichen Erfolge einstellten, erlaubten sie Live-Übertragungen. Und sie schritten nicht ein, als die Bewohner nach einem Sieg auf die Strassen strömten und ihr Team mit Sprechchören feierten. Nur eines sah man nicht: die Flaggen der letzten demokratischen Regierung.