„Wir haben bis dato 640 Milliarden Dollar in Afghanistan versenkt und mehr als 800 Milliarden im Irak – das sind nach meiner Berechnung mehr als 12 000 Dollar auf jeden amerikanischen Haushalt. Man stelle sich einmal vor, dieses Geld sei für Bildung ausgegeben worden. Oder zum Beispiel dafür, mehr Kinder zu einem College-Abschluss zu bringen.“
Obamas grösster Fehler?
Das schreibt Nicholas D. Kristof, einer der Star-Kolumnisten der New York Times, in einem Artikel zur Ernennung von Chuck Hagel zum neuen Verteidigungsminister. Amerika brauche einen Chuck Hagel, denn der Vietnam-Veteran Hagel sei einer, der den Krieg kenne, und deshalb lange zögere, bevor er einen Krieg beginne. Im Gegensatz zu anderen, die zu militärischer Gewalt neigten, „um rasch Probleme zu lösen.“
Kristof bezeichnet die Truppenaufstockung von 33 000 Mann in Afghanistan, die Barack Obama kurz nach seinem Amtsantritt verfügte, als den grössten Fehler des Präsidenten. Mittlerweile ist Amerika kriesgsmüde und Obama will so schnell wie möglich abziehen. Bisher hatte das Pentagon darauf beharrt, nach 2014 noch zehntausend bis zwanzigtausend Soldaten in Afghanistan zu belassen – quasi als Feuerwehrtruppe. In dieser Woche gab der stellvertretende Sicherheitsberater Ben Rhodes bekannt, im Weissen Haus werde erwogen, alle abzuziehen bis auf die letzte Frau und den letzten Mann.
Was die Afghanen in Kabul denken
Westliche Journalisten bringen nicht selten aus Afghanistan die frohe Botschaft, die Bevölkerung sei mehrheitlich gegen eine Rückkehr der Taliban an die Macht. Leider spiegelt diese Sichtweise vor allem die Meinung der Bevölkerung in Kabul. Dort konnten Hunderttausende profitieren von der Anwesenheit der westlichen Hilfswerke, dort wurden Arbeitsplätze geschaffen mit den Milliarden ausländischer Hilfsgelder, dort waren grosse und kleine Geschäfte zu machen mit den Konsum-Bedürfnissen der internationalen Afghanistan Schutztruppe ISAF.
Das US-Aussenministerium und USAID, die staatliche Agentur für Entwicklungsarbeit, haben im Lauf des Krieges Hunderte von Firmen für Aufbauarbeit , Beratung und Unterstützung der Regierung Karzai unter Vertrag genommen. Mehr als 300 Millionen Dollar flossen so allein aus Washington jeden Monat in das zivile Projekt Afghanistan. Eine lächerlich geringe Summe im Vergleich zu den Militärausgaben. Aber immerhin gab es einen Boom im Bauwesen, im Transport und im Sektor Dienstleistungen.
Geschätzte Arbeitslosigkeit von 40 Prozent
Nachhaltig war wenig. NZZ-Südostasien-Korrespondentin Andrea Spalinger zitierte 2011 einen Bericht der International Crisis Group, in dem es heisst, dass der Westen in Afghanistan versagt habe. 57 Milliarden Dollar seien in zehn Kriegsjahren in den sogenannten Wiederaufbau von Afghanistan geflossen, und die Regierung in Kabul sei am Ende nicht einmal in der Lage, auch nur den Betrieb ihrer Spitäler oder die Gehälter von Beamten, Polizisten und Lehrern aus eigenen Mitteln zu finanzieren. Hinzu kommt die sattsam bekannte Korruption in Regierungskreisen. Ein grosser Teil der Hilfsgelder ist in den Taschen von Politikern, Warlords und Mafiosi verschwunden.
Eine eigene Industrieproduktion ist kaum existent. Investoren in Bergbau oder Landwirtschaft lassen die Finger von einem Land, das sich im Krieg befindet. Die Arbeitslosigkeit wird auf 40 Prozent geschätzt. Laut Berichten der Weltbank hängt die afghanische Wirtschaft am Tropf der Hilfsgelder.
Florierender Export von Drogen
Der einzige nennenswerte „unabhängige“ Wirtschaftszweig ist der Export von Drogen. Doch dieser ist – so darf man vermuten – keine sichere Einnahmequelle der Regierung in Kabul. Amerikanische Versuche, die Mohnkulturen zu zerstören, verliefen weitgehend im Sand.
Eine nichtstaatliche Hilfsorganisation wie CARE hatte noch vor einem Jahr mehr als tausend Mitarbeiter in Afghanistan, die meisten waren Afghanen. Alles stand im Dienst der ausländischen Truppen und Firmen. Zehntausende ausländische Experten, Entwicklungshelfer, Militär-Logistiker und Mitarbeiter der zahlreichen Sicherheits-Firmen konsumierten alles, was man von morgens bis abends so braucht: vom Elektronik-Zubehör bis zum Haarschnitt, vom Fast Food bis zum käuflichen Sex.
Wer kommt an die Macht?
Das Verquere und Paradoxe an der Militärintervention in Afghanistan ist also die Tatsache, dass eben diese Intervention selbst einen bescheidenen wirtschaftlichen Aufschwung ermöglicht hat, das heisst: das Versprechen von Stabilität und Aufschwung zeitigte nicht mehr als eine Art Kollateral-Effekt des Krieges. Mit dem Abzug der Truppen fällt der grösste Teil dieser von amerikanischen Steuerzahlern finanzierten Pseudowirtschaft nun wie ein Kartenhaus in sich zusammen und erweist sich als self-destroying prophecy.
Sowohl die EU als auch die Amerikaner haben zwar angekündigt, die Entwicklungshilfe nach dem Ende des militärischen Engagements weiterlaufen zu lassen, doch das ist nicht viel mehr als Rhetorik zur innenpolitischen Gesichtswahrung. Allein auf die simple Frage, wohin denn das Geld künftig fliessen soll, gibt es keine Antwort. Denn wie lange Hamid Karzai oder eine Figur seiner Familie noch in Kabul an der Macht sein wird, ist äusserst unsicher. Unsicher auch, ob die auf April 2014 geplanten Präsidentenwahlen überhaupt stattfinden werden. Die Taliban haben sie schon jetzt als „unbedeutend“ bezeichnet.
Karzai zur Sicherheit
Sicher ist hingegen, dass ausser den paschtunischen Taliban noch Usbeken, Tadschicken, Hazara und andere ethnisch-politischen Gruppierungen einen Fuss in der Tür hätten, falls es einen Kuchen zu verteilen gäbe. Konflikte sind also programmiert, wenn nicht gar ein neuer Bürgerkrieg.
Im November 2011 kündigte Präsident Hamid Karzai bei einem Besuch in Istanbul an, dass er mit eigenen Einheiten bald in der Lage sein werde, für die Sicherheit der Hälfte der afghanischen Bevölkerung aufzukommen. (NZZ 3.11.2011). Ein Satz, den der Taliban-Führer Mullah Omar sich wohl auf der Zunge zergehen liess. Wenn ein Staatspräsident erklärt, er regiere in der Hälfte seines Landes, dann erinnert das an eine Kabarett-Nummer. Dessen ungeachtet wird das Comedy-Stück auch von den NATO-Strategen weitergespielt. Der amerikanische Verteidigungsminister Leon Panetta sagte im letzten Jahr bei einem Afghanistan-Besuch auf dem Flughafen in Kabul mit Poker Face, die Sicherheitslage habe sich gebessert und es sei jetzt an der Zeit, das Problem der Sicherheit in die Hände der Afghanen zu übergeben.
Afghanistans Armee - Ziel und Realität
Der Satz gehört zum Standard-Repertoire von Politikern, die nicht wissen, wie sie aus einem nicht zu gewinnenden Krieg herauskommen sollen. George W. Bush sagte seinerzeit exakt denselben Satz, als er den Rückzug aus dem Irak einleitete. Barack Obama wiederholte ihn 2012, als er der Nation und seinen Soldaten erklärte, warum jetzt der Moment zum Rückzug gekommen sei.
Was Leon Panetta nicht erwähnte, ist die Tatsache, dass in Afghanistan Armee und Polizei breitflächig von islamischen Extremisten unterwandert sind und kaum eine Woche vergeht, ohne dass NATO-Soldaten von infiltrierten afghanischen Polizisten oder Soldaten massakriert werden. Afghanische Sicherheitskräfte in Stärke von 350 000 Mann sollten in Afghanistan aufgebaut werden. Das war einmal das Ziel. Das Ergebnis ist jämmerlich. Laut einem Pentagon-Bericht ist derzeit von 23 Brigaden der afghanischen National Army lediglich eine einzige in der Lage, ohne amerikanische Unterstützung zu operieren. (New York Times 16. Dez.2012)
Wenn die letzten amerikanischen Soldaten gehen, werden viele Afghanen gezwungen sein, ihr Land zu verlassen. Ein Visum in den USA werden die wenigsten von ihnen bekommen.