Klar, in Zeiten des virusbedingten Lockdown und eingeschränkter Freiheiten sind kontroverse Debatten über den Sinn und die Angemessenheit der von oben verordneten Massnahmen notwendig. Sie können zur Klärung über die Gründe solcher Verordnungen beitragen und Pulsmesser zum Stand der öffentlichen Meinung sein.
Die Verwirrnisse des Meisterdenkers
Was aber in den letzten Tagen einige philosophische Köpfe und bekannte Intellektuelle zur Frage der Corona-Massnahmen verlauten liessen, das lässt doch erhebliche Zweifel an deren Realitätssinn aufkommen. So behauptete der berühmte italienische Philosoph Georgio Agamben unlängst in der NZZ im Brustton der Verzweiflung und der Entrüstung, dass durch die virusbedingten Notverordnungen «die Schwelle, welche die Menschlichkeit von der Barbarei trennt, überschritten wurde». Auch wenn der Philosoph nicht klarstellt, von welchem Land er eigentlich spricht, kann man annehmen, dass er Italien meint.
Zu den Dingen, die er als «Barbarei» einstuft, zählt er die Verbrennung von Leichen, ohne sie zu bestatten. Es mag solche Fälle gegeben haben, doch im Fernsehen sind auch kirchliche Bestattungszeremonien aus dem Epizentrum Bergamo gezeigt worden – allerdings mit sehr eingeschränkter Teilnahme von Trauernden. Was genau meint also der Philosoph?
Agamben wirft der katholischen Kirche und dem Papst zudem vor, vergessen zu haben, «dass eines der Werke der Barmherzigkeit darin besteht, die Kranken zu besuchen». Wie kommt der Philosoph zu solchen pauschalen Behauptungen? In der Wochenzeitung «die Zeit» ist vor einigen Wochen eine Seite mit mehreren Dutzend Namen von italienischen Geistlichen publiziert worden, die in Norditalien bei der Betreuung von Virus-Kranken selber infiziert wurden und daran gestorben sind.
Agamben klagt weiter, «im Namen eines nicht näher zu bestimmenden Risikos» nehme die Gesellschaft es hin, «die Pflege unserer Freundschafts- und Liebesbeziehungen einzustellen». Differenzierungen gehören offenkundig nicht zu den Stärken des Meisterdenkers. Oder hat er noch nie davon gehört, dass man Freundschaftsbeziehungen (anders als im Mittelalter) auch über das Telefon, E-Mail oder Skype oder (wie schon zu Goethes oder Boccaccios Zeiten) über Briefe pflegen kann? Und dass im Lockdown-Regime zumindest innerhalb der Familie auch Liebesbeziehungen möglich sind, sollte eigentlich auch für Philosophen kein Geheimnis sein.
Schliesslich glaubt Agamben noch zu wissen, es bestehe höchste Gefahr, dass die virusbedingten Notverordnungen von machtgierigen Politikern zu einem «ständigen Ausnahmezustand» missbraucht werden könnten. «Doch die Juristen schweigen», fügt er unheilschwanger hinzu. Das mindeste, was man als Nicht-Italiener dazu sagen kann, ist die Feststellung, dass Agamben offenkundig keine schweizerischen oder deutschen Medien zur Kenntnis nimmt, in denen die Juristen zu diesen Fragen keineswegs schweigen.
Der Starregisseur als Trump-Fan
Nicht weniger simplizistisch äussert sich der bekannte deutsche Theaterregisseur Frank Castorf zum Corona-Regime in einem «Spiegel»-Interview: «Ich möchte mir von Frau Merkel nicht mit einem weinerlichen Gesicht sagen lassen, dass ich mir die Hände waschen muss», wird da trotzig verkündet. Ob sie es wohl anderen Leuten als dem erlauchten Regisseur sagen darf?
Dieser schimpft weiter: Ob seine «verletzten Bürgerrechte» je wieder hergestellt würden, hänge wohl «von der Gnade von Leuten ab, die für anderes gewählt wurden und deren Inkompetenz allen klar» sei. Kein Wort darüber, wen er denn für kompetenter als Frau Merkel oder die Fachleute des Robert Koch-Instituts hält.
Zum Schluss bekennt der politisch eher links angesiedelte Castorf, er stelle mit Erschrecken fest, «dass ich plötzlich Trump mag. Weil der aus der Reihe tanzt». Was Trumps Aus-der-Reihe-Tanzen in Sachen Corona-Bekämpfung in seinem Land für Folgen hat, erwähnt der Starregisseur nicht.
Der Kolumnist als Scharfrichter
Auch der stellvertretende Chefredaktor des «Schweizer Monats», Milosz Matuschek, versteigt sich in seiner NZZ-Kolumne zu schwindelerregend steilen Thesen. Er scheut sich nicht, den deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier im Zusammenhang mit der Corona-Krise als «Menschen in Führungsposition» abzukanzeln, der in seinem Leben «weder Mut noch einen originellen Gedanken hatte».
Anscheinend hat dieser hochnäsige Scharfrichter nie davon gehört, dass der frühere deutsche Aussenminister vor einigen Jahren eine Niere für seine kranke Frau gespendet hat. Und dass der angeblich profil- und ratlose Bundespräsident heute in Popularitätsumfragen mit an vorderster Position steht. Ausserdem unterstellt der Autor in seiner Kolumne, die Meinungs- und Religionsfreiheit (!) seien auch hierzulande extrem gefährdet. Beispiele bitte!
Erlösung von der Flugscham
Gerechterweise muss aber auch festgehalten werden, dass es sich bei den hier angeführten Beispielen abstruser Meinungen zum Corona-Lockdown von Seiten der philosophischen oder künstlerischen Zunft nicht unbedingt um repräsentative Muster handelt. Es gibt auch vernünftigere und diskutablere Beiträge aus dieser Ecke. So etwa der Philosoph Ludwig Hasler in einem längeren Gespräch mit dem Magazin der «NZZ am Sonntag». Hasler erklärt, er neige beim Kampf gegen die Corona-Epidemie «eher zum Schweden-Modell», bei dem die Regeln weniger strikt deklariert werden. Über solche Differenzierungen lässt sich in guten Treuen streiten. Sie werden auch in weniger apodiktischem Ton vorgebracht als die oben zitierten Besserwisser-Kommentare.
Noch entspannter und mit wohltuendem Witz reagiert der deutsche Entertainer Harald Schmidt in der NZZ auf Fragen über seine Haltung zum Lockdown-Regime. Frage: «Hat diese Krise auch gute Seiten?», Schmidt: «Jede Menge. Flugscham überflüssig, Heizöl billig. Solidarität gross.»