Sri Lanka war bald nach Ende des Bürgerkriegs als Tourismusregion wieder gefragt und beliebt. Nur die schrecklichen Anschläge an Ostern 2019 brachten einen kurzen Dämpfer. Der Tourismus erholte sich wieder. Und dann kam die Coronakrise. Wir konnten in der Presse über Repatriierungsflüge lesen, über einzelne Touristinnen und Touristen, die im Land hängen blieben. Es hiess, die Schweiz habe die Verpflichtung, allen zu helfen, die ausreisen wollten. Allenfalls konnte man in der internationalen Presse noch erfahren, dass das Land sehr schnell und effizient reagiert, sofort Einreiseverbote und strenge Quarantäneregeln in Kraft gesetzt hatte. Die meisten Hotels und praktisch alle Sehenswürdigkeiten wurden ab 20. März geschlossen. Die meisten Urlauber wurden rechtzeitig ausgeflogen. Doch wie geht es den Menschen auf dem Land, wo keine Journalistinnen hinkommen?
Am 14. April erreichte mich dieser Hilferuf des kleinen, von Tamilen gegründeten Hilfswerks Thannir: „Von unserem Projektverantwortlichen in Kilinochchi erhielten wir leider schlechte Nachrichten. Die Menschen dürfen in den vier Dörfern, in denen wir Hilfe leisten, wegen des Coronavirus nicht aus den Häusern, haben aber keine Lebensmittel. Sie verdienen sich ihr Geld meist als Taglöhner. Doch zurzeit können sie wegen den staatlichen Ausgangsbeschränkungen nicht arbeiten. Die Polizei ist sehr streng und bei Lebensmittel-Diebstählen, die aus purer Not erfolgen, geht sie brutal und repressiv gegen die Menschen vor. Die Lage vieler mittelloser Menschen in unserem Projektgebiet ist verzweifelt.“
Der Hilferuf ist nicht übertrieben. Sri Lanka hat wie im Krieg militärisch und sehr unzimperlich reagiert auf die Krise. So wird zum Beispiel die COVID-19-Task-Force vom Armeekommandanten Shavendra Silva geleitet.
Fast alle haben ein Familienmitglied verloren
Thannir heisst Wasser. Das Hilfswerk wurde vor zwei Jahren von zwei vor vielen Jahren in die Schweiz emigrierten Tamilen gegründet, in Zusammenarbeit mit einigen Schweizerinnen und Schweizern. Alle sind Freiwillige und helfen mit, für die Menschen in der Provinz Kilinochchi Brunnen zu bauen, damit diese ihre kleinen landwirtschaftlichen Betriebe oder Gärten bewässern können und Wasser zum Kochen und Duschen haben. Viele sind teilweise Selbstversorger und verdienen ihr weniges Bargeld als Tagelöhner bei Grossgrundbesitzern oder bei wirtschaftlich besser gestellten Bewohnern der Gegend.
Die Menschen in dieser Provinz, in der über 90 Prozent Tamilen leben, sind immer noch Opfer des erbittert und blutig geführten Bürgerkriegs zwischen der tamilischen Minderheit und der singhalesischen Mehrheit. Fast alle, die vom Hilfswerk betreut werden, haben ein Familienmitglied im Krieg verloren. Vielen fehlen Gliedmassen, da das Gebiet stark vermint war und immer noch nicht vollständig gesäubert ist, viele sind alleinerziehende Frauen. Die Regierung hilft teilweise mit Hilfspaketen. Doch bei den oben erwähnten Familien ist diese Hilfe nicht angekommen. Das kann auch mit der schlecht erschlossenen Lage dieser Dörfer zu tun haben. Die Einwohner dieser Gegend sind Hindus und gehören meist den unteren Kasten an – eine weitere Benachteiligung. Eine zusätzliche Krise können viele kaum verkraften.
Das Projekt bietet Hilfe zur Selbsthilfe, professionell wird nur dort geholfen, wo es nicht anders geht – zum Brunnenbohren braucht es Fachleute. Andere Hilfswerke gibt es laut Thannir nicht in dieser Gegend. Nicht wenige Einwohner leben aber von privaten Zuschüssen der tamilischen Diaspora.
Ich kenne einen der Hilfswerkgründer, Yoharaja Alvar Gasinathar, genannt Yoha, seit er 1983 als politischer Flüchtling in die Schweiz kam. Von Beruf Lehrer und Schriftsteller, hat er fast sein ganzes Leben als Reinigungskraft gearbeitet und mit seiner Frau drei Kinder grossgezogen.
Kaum wurde er pensioniert, benützte er seine kleine Rente, um den Menschen in seiner Heimatprovinz zu helfen. Im Herzen ist er nie ganz in der Schweiz angekommen. Dieses Leben in zwei Welten setzt er jetzt positiv um. Bei seinen Kontakten in der alten Heimat ist ihm auch die Unterprivilegierung der unteren Kasten, gegen die er schon vor seiner Flucht gekämpft hatte, wieder stark vor Augen geführt worden.
Unterstützt wird Yoha von Ganapathipillai Suthakaran, genannt Sutha, der sich als Projektleiter in einem Medizintechnikunternehmen, als SP-Politiker und Aktivist in der Emigrantenszene und als Familienvater gut in der Schweiz integriert hat. Beide Exiltamilen reisen regelmässig auf eigene Kosten ins Projektgebiet. Sie kennen die Gegend, eine semi-aride Buschlandschaft, in der auch schon mal Elefanten Felder zertrampeln, und sie kennen vor allem die Mentalität der Menschen.
Sie haben in Veluppillai Thampiraja Kumanan einen Kontaktmann gefunden, der zuverlässig die laufenden Arbeiten kontrolliert. Kumanan war früher Kämpfer bei den Tamil Tigers. Er hat aber den Krieg hinter sich gelassen und will vor allem unterprivilegierten Menschen helfen. Das Hilfswerk wird regelmässig von in der Schweiz lebenden Tamilen unterstützt. So hat etwa der TaVS, die tamilische Vereinigung der Studierenden bei einer Veranstaltung über CHF 7’000.— für die Vergessenen im Norden Sri Lankas gesammelt.
Die ersten vom Hilfswerk Thannir/Wasser begünstigten Familien können sich jetzt dank der neu erstellten Brunnen wenigstens die Hände regelmässig waschen. Das wäre bis vor kurzem nicht möglich gewesen und ist in Zeiten von Corona sehr wichtig. Das Hilfswerk hat sofort reagiert und Fr. 2’000.— des für neue Projekte geplanten Geldes für Essenspakete in den Norden Sri Lankas geschickt. Kumanan hat sofort mit der Vorbereitung der Essenspakete begonnen.
Eine Gruppe von Freiwilligen des «Vinayakar Sport Club», einem sozial sehr engagierten Fussballverein, hat ihm dabei geholfen. Sobald das Geld angekommen ist – Überweisungen brauchen etwas Zeit – wird der Fussballklub, der nach dem Elefantengott Ganesh benannt ist, die Verteilung übernehmen. Diese jungen Männer, die den Krieg nur noch als Kinder erlebt haben und sich wohl kaum mehr an die auch unter Tamilen bestehenden Meinungsverschiedenheiten erinnern, haben schon beim Bau der Brunnen mitgeholfen.
Die Menschen in der Nordprovinz Sri Lankas sind nicht die einzigen, die stark unter dem Lockdown leiden. Fischer vor allem können oder konnten ihren Fang nicht mehr verkaufen oder gar nicht mehr auslaufen. Die Arbeiter in den Teegebieten, die wie rund 60 Prozent aller Arbeitenden in Sri Lanka Tagelöhner sind, haben wegen des Zusammenbruchs der Wirtschaft und fehlender Exporte auch keine Arbeit mehr. Auch für sie heisst kein Geld kein Essen, ihnen geht es so schlecht wie den Menschen in Kilinochchi. Auch aus Indien kann man ähnliche Geschichten in lokalen und internationalen Zeitungen lesen.
Seit dem 16. April hat die sri-lankische Regierung das Ausgehverbot teilweise gelockert. Die vier Dörfer des Projektgebiets gehören noch nicht zu dieser Zone. Die Zahlen: Am 16. April meldete die Regierung auf einer vorbildlichen Website für Touristen folgende Covid-19-Zahlen: 144 hospitalisiert, 166 krank, 65 geheilt und 7 Tote. Die Seite wird täglich aufdatiert.
Wie überall sind die Zahlen mit Vorsicht zu sehen.
Die einzige, derzeit noch aktive, regelmässige Flugverbindung nach Europa hält Qatar Airways via Doha (mit dem Promocode „TRAVELHOME“ sparen Sie 10%). Sri Lankan Airlines fliegt am 18. April nach London (Flug UL503). Edelweiss hat keine Flüge mehr in die Schweiz geplant.
Für die letzten im Land bleibenden Touristen und Touristinnen, die abreisen wollen, ist also gesorgt. Besser als für viele Menschen im Nordosten Sri Lankas.
Gerade noch rechtzeitig werden die vom Hilfswerk Thannir gespendete Essenspakete bei 150 Familien in vier Dörfern ankommen. Für einmal müssen sie nicht länger hungern. Yoha hat inzwischen ein Buch geschrieben, das vehement für eine Besserstellung der unteren Kasten in seinem Land und in Indien plädiert. Es hängt wieder mal alles mit allem zusammen.
Uns führt diese kleine Geschichte vor Augen, dass Covid-19 zwar auch in der reichen Schweiz grosse Opfer fordert und viele Leute mit Existenzängsten zurücklässt, dass unsere Unterprivilegierten aber zumindest nicht um Hilfe schreien müssen, weil sie nichts mehr zu essen haben. Wir wussten schon immer über solche Ungleichheiten. Vielleicht hilft die Krise ein bischen mit, dass wir mehr daran denken?
Eine Schlussbemerkung, die sich aufdrängt: 1983, als die ersten tamilischen Flüchtlinge in die Schweiz kamen, galten sie als Abschaum, als Bedrohung, als Drogenhändler und Kinderschänder (Originalzitat «Blick» aus jener Zeit). Heute sind viele von ihnen, wie Yoha und Sutha, nicht nur wertvolle Mitglieder unserer Gesellschaft, sondern sie leisten auch wichtige Arbeit im Land, aus dem sie einst aus politischen Gründen geflüchtet sind.
(Fotos: Ganapathipillai Suthakaran, Marianne Pletscher)