Ohne dieser Erfahrung nun gleich die Würde einer Gesetzmässigkeit zu verleihen, ist sie doch auch wissenschaftlich so weit gesichert, dass man sie als eine ziemlich robuste empirische Verallgemeinerung betrachten kann.
Das kosmologische Prinzip des Internets
Heute teilt man und teilt man sich wie besessen mit. Wenn die Annahme stimmt, dass Kommunikation uns näher bringt, müsste man eigentlich eine planetarische Eruption von Friede, Freude, Eierkuchen beobachten. Die Menschheit ist verbundener als je zuvor. Von den 7 Milliarden Menschen haben 6 Milliarden Zugang zu einem Smartphone. 1.3 Milliarden Menschen nutzen Facebook täglich, mehr als eine Milliarde laden YouTube-Videos herunter, und Milliarden verkehren über WhatsApp und WeChat. Jeder mit dem kleinen Ding in der Hand wird zu einem „Hub“. Man könnte in Anlehnung an die Allgemeine Relativitätstheorie vom kosmologischen Prinzip des Internets sprechen: Jeder Nutzer ist Zentrum des Netzuniversums.
Tribalisierung
Und dennoch machen wir eine andere Beobachtung. Frei fliessende Information macht die Differenzen viel augenscheinlicher. Bereits 2011 war im „Guardian“ von „Twitter-Stämmen“ die Rede. Angehörige digitaler Stämme identifizieren sich meist nicht als solche. Aber sie sind Follower der gleichen Leute auf Twitter oder Tumblr; lesen die gleichen Blogs; schauen die gleichen Videos auf YouTube; benutzen die gleichen Hashtags; reden den gleichen Slang; „liken“ und „sharen“ die gleichen Facebook-Links; verachten die gleichen Feinde. Und all dies, obwohl sie einander meist nicht als physische Personen kennen, sondern als elektronische Masken im Netz. Liken ist nicht ein physisches, sondern ein elektrifiziertes Mögen – man gibt über einen Klick ein positives Urteil ab. Das Kennen bleibt aussen vor. Technologie bringt uns nicht nahe. Sie entfernt uns voneinander, indem sie uns eine künstliche Nähe vorgaukelt.
Zusammengehörigkeitskitsch
Es gibt heute den Zusammengehörigkeitskitsch. Am penetrantesten vielleicht im überzuckerten Popgelee des „We are the World“ (es ist durchaus eines Gedankens wert, wen eigentlich die Stars auf der Bühne mit „wir“ meinen). Aber auch die Technogiganten übertreffen sich nur so im Kreidefressen. Mark Zuckerberg wird nicht müde, eine Kosmopolis unter Facebooks Ägide zu beschwören, eine „global community“: „Unsere grössten Chancen sind jetzt global – Wohlstand verbreiten, Frieden und Verständnis fördern, Menschen aus der Armut heben, wissenschaftlichen Fortschritt beschleunigen (...) Facebook steht für dieses Zusammenrücken und Schaffen einer globalen Gemeinschaft.“ Google predigt, alle Information der Welt „zu organisieren, um sie allen zugänglich und nutzbar“ zu machen. Amazon möchte, dass sich alle Kunden der Welt vereinigen, und kauft wacker Ladenkette um Ladenkette ein. Jeff Bezos brüstet sich, „nicht wettbewerbs-zentriert“ („competitor obsessed“), sondern das „kunden-zentrierteste“ („custom obsessed“) Unternehmen zu sein, das jemals auf dem Planeten existiert habe.
Technovisionäres Schwurbeln
Solche Töne stehen in einer langen Tradition technovisionären Schwurbelns. Die grossen Netzwerke des 20. Jahrhunderts sonnten sich alle im Glanz der Vision einer globalen Vereinigung, der Grenzaufhebungen und Distanzüberwindungen. Guglielmo Marconi erklärte 1912, die Erfindung des Radios schaffe den Krieg ab, weil Krieg lächerlich werden würde. Der Chefingenieur von AT&T, John Joseph Carthy, sagte 1923 voraus, dass das Telefonsystem alle Völker der Erde in einer einzigen Bruderschaft zusammenschliesse. Schliesslich trat dann 1962 Marshall McLuhan mit seiner „Gutenberg Galaxis“ auf, in der er den weit hallenden Begriff des „globalen Dorfes“ schuf, um die neue „elektronische Interdependenz“ der Welt zu beschreiben.
Allerdings gab sich McLuhan keinen Illusionen hin. In Dörfern sah er die Enge tribalen Lebens, geprägt durch Misstrauen und Konflikt. Wenn man also die Welt zu einem Dorf macht, hebt man diese Laster einfach auf globale Ebene. In seinem letzten Fernsehinterview redete McLuhan Klartext: „Eine der Hauptsportarten der Stammesmenschen ist das gegenseitige Abschlachten [...] Wenn die Menschen dichter zusammenrücken, werden sie barbarischer, gegenseitig ungeduldiger [...] Das globale Dorf ist ein Ort mit sehr harten Schnittstellen und sehr ruppigen Situationen.“
Der Paternalismus von Techno-Geeks
Die meisten dieser Visionen gehen von der Vorstellung der technischen Lösbarkeit sozialer Probleme wie von einem Glaubensartikel aus. Und genau das ist das Problem. Zweifellos bringt man Leute einander näher, indem man bessere Kommunikationsmittel schafft. Bessere Kommunikationsmittel heisst aber auch: geeignetere Mittel der Belästigung, Beschimpfung, Bedrohung. Es scheint fast, als würden die neuen sozialen Plattformen alte Atavismen wecken und ihnen freien Lauf lassen. Trotz des grossen publizistischen Gedöns von Facebook um die Kontrolle von Hassrede, Propaganda und Fake News bleibt es mehr als fraglich, ob sich ein friedliches Zusammenleben allein mit entsprechender Software herbeiführen lässt. Das Kernstück von Facebooks neuem Projekt ist eine computerisierte „soziale Infrastruktur“, welche mit künstlich-intelligenten Programmen die Informationsflüsse so lenken soll, dass jeder nach seiner Fasson glücklich wird. Das System möchte allen Nutzern erlauben, sich frei auszudrücken und bastelt gleichzeitig an Schirmen und Filtern, die den individuellen Nutzer vor „anstössigem Inhalt“ schützen. Mehr noch: Kürzlich hat Facebook Regeln herausgegeben, wie man sich „anständig“ zu äussern habe. Das ist Paternalismus von Techno-Geeks.
Es gibt kein richtiges Leben in den Social Media
Sich mitteilen – sich „sharen“ – wird zu einem Teil der Personalität im Netz. Die Person, die sich nicht mitteilt, ist eine altmodische Identität, schlimmstenfalls ein Outcast. Fast anderthalb Milliarden auf Facebook – will man da aussen stehen? Facebook will nur eines: die möglichst lange Präsenz auf der Site. Es herrscht eine Präsenzneurose. Wenn man sich erst einmal angeschlossen hat, beginnen die Updates zu fliessen, setzen all die kleinen Endorphinstösse von Likes ein – die einen doch letztlich unbefriedigt lassen, so dass man mehr will. Das frustrierende Gefühl „War’s das?“ ist jeder Begegnung beigemischt und verstärkt nur das zwanghafte Beteiligtsein und Teilen. Die Evangelisten der Social Media wollen uns diese Süchtigkeit als zweite Natur aufschwatzen. Ein Innenleben zu haben, ist uncool, alles, was im Innern vorgeht – das ödeste, banalste, widerlichste Seelenevent – muss hinausgestülpt werden, damit andere sich daran delektieren.
Kreidefresser von Silicon Valley
Am 1. Oktober, zum Abschluss von Yom Kippur, liess es sich Zuckerberg nicht nehmen, in gewohnt gesüsster Manier den Reuigen aufzuführen: „Heute endet Yom Kippur, der heiligste Tag für Juden, an dem wir über das vergangene Jahr nachdenken und um Vergebung für unsere Fehler bitten. Jene, die ich in diesem Jahr verletzte, bitte ich um Vergebung und ich werde versuchen, mich zu verbessern. Für die Art, wie mein Werk benutzt wurde, um Leute zu trennen, statt zusammenzubringen, bitte ich um Vergebung und ich werde daran arbeiten, es besser zu machen. Mögen wir alle im kommenden Jahr besser werden, und mögen alle von euch verzeichnet sein im Buch des Lebens.“
Eines muss man dem cleveren Nerd von Facebook lassen: Kaum einer macht aus Bibelfledderei [1], Fortschrittskitsch und Kreidefresserei eine perfektere Performance als er. Seine gerührten Untertanen liken ihn besinnungslos.
Der Mensch ist des Menschen Unbekannter
Wir kennen alle die indirekte Proportionalität von Kennen und Mögen. Sie zeigt sich schon darin, dass Kennen eine Drohung sein kann. „Ich kenne dich“ – das klingt nicht unbedingt wohlwollend. Zuviel Wissen über den anderen beschädigt das gute Verhältnis zu ihm, beschädigt ihn selbst. „Du sollst dir kein Bild machen!“ Frisch hat das Gebot vom Verhältnis Mensch-Gott zum Verhältnis Mensch-Mensch profaniert. Im Tagebuch 1946–1949 stehen die umwerfenden Sätze: „Unsere Meinung, dass wir das andere kennen, ist das Ende der Liebe (...) ‚Du bist nicht’, sagt der Enttäuschte oder die Enttäuschte: ‚wofür ich Dich gehalten habe’. Und wofür hat man sich denn gehalten? Für ein Geheimnis, das der Mensch ja immerhin ist, ein erregendes Rätsel, das auszuhalten wir müde geworden sind. Man macht sich ein Bildnis. Das ist das Lieblose, der Verrat.“
Der Mensch ist des Menschen Unbekannter. Man mag noch so viele Daten über ihn zusammentragen. Vielleicht sollte man ein Menschenrecht auf Nicht-erkannt-Sein einfordern.
[1] „Wer nicht im Buch des Lebens verzeichnet war, wird in den Feuersee geworfen“, Offenbarung 20,15.