„Heute Abend stossen wir alle an: auf die Gesundheit Italiens“. So heisst es in SMS-Botschaften an die linksliberale „La Repubblica“, die grösste politische Zeitung Italiens. „Heute feiern wir die neue Befreiung Italiens“. Doch auch Kritisches wird geschrieben: „Italien wurde ein Tumor entfernt, jetzt braucht es eine lange Chemotherapie“. Oder: „Sich von Berlusconi befreien ist das eine, jetzt müssen wir uns vom Berlusconismus befreien“.
Tausende haben sich vor dem Palazzo Chigi, dem italienischen Parlament, versammelt. In Sprechchören rufen sie Berlusconi-feindliche Parolen. Wie ein Geächteter schlich er sich durch die Hintertür des Parlaments davon. Was für ein Abgang.
Um 20.30 Uhr traf Berlusconi im Quirinal, dem Sitz des Staatspräsidenten ein. Eine grosse Menge schrie: "Hanswurst, ins Gefängnis mit dir". Oder: "Weg mit der Mafia". Einige Demonstranten bewarfen ihn mit Münzen. Um 21.00 Uhr reichte er Staatspräsident Napolitano offiziell den Rücktritt ein. Ein Chor versammelte sich spontan in der Strasse und sang Händels "Halleluja".
Ein Sprungbrett für den Absprung
Mit 380 Stimmen hatte zuvor die Abgeordnetenkammer das Spar- und Reformpaket angenommen. Bereits am Vortag hatte der Senat dem Paket zugestimmt. 17 Jahre hatte Berlusconi versprochen, er wolle Reformen durchführen – und nichts geschah. Jetzt hat das Parlament alles in drei Tagen möglich gemacht.
Doch was in dem Reformpaket Mögliches und Unmögliches steht, ist gar nicht wichtig. Vieles wirkt schwammig. Es ging beim Reformpaket nicht um Reformen. Es ging darum, für Berlusconi ein Sprungbrett zu schaffen, damit er abspringen kann und muss. Über die eigentlichen Reformen muss die neue Regierung entscheiden.
Schnell eine neue Regierung
Geführt wird die neue Regierung von Mario Monti. Dies, obwohl Berlusconi und Lega-Chef Bossi im letzten Moment noch versucht hatten, Monti zu verhindern. Sie brachten den früheren Ministerpräsidenten Lamberto Dini ins Spiel, der in den Neunzigerjahren eine technische Regierung angeführt hatte. Das Spiel war offensichtlich: Berlusconi wollte noch einmal zeigen, dass er entscheidet, sogar über seine Nachfolge. Doch auch dieses Spiel verlor er.
Mario Monti, der parteilose frühere EU-Kommissar, will sofort seine neue Regierung bilden. Unklar war am Samstagabend noch, wie weit sie mit reinen Technokraten, also vor allem Wirtschaftsspezialisten, besetzt sein wird. Oder werden auch Politiker aufgenommen? Berlusconi forderte in einem zweistündigen Mittagessen mit Monti, dass der Berlusconi-Vertraute Gianni Letta Vize-Ministerpräsident wird. Der 76jährige Letta war früher Journalist, Filmschauspieler und lange Zeit Staatssekretär. Um 23.00 Uhr sagte Letta: "Ich mache einen Schritt zurück, ich will kein Problem schaffen". Auch diesen letzten Kampf hat Berlusconi verloren.
Die Lega in der Opposition
Die Lega Nord hat am Samstagabend bekanntgegeben, sie werde eine Regierung Monti nicht unterstützen und in die Opposition gehen. Ihr kann die Umwälzung in Rom nur Recht sein, denn die Allianz mit Berlusconi hat der Lega in jüngster Zeit viele Stimmen gekostet. Die Lega-Wähler haben nicht verstanden, dass sie nach Berlusconis Pfeife tanzen müssen.
Lega-Chef Umberto Bossi gelang es nicht, mehr Föderalismus durchsetzen. In der Opposition hofft die Partei, wieder zu erstarken. Italien war das einzige Land, in dessen Regierung eine Partei mitwirkte, die für die Auflösung des eigenen Landes ist. Offiziell will die Lega noch immer Norditalien vom übrigen Italien abspalten. „Wir zahlen nicht Steuern für die faulen Süditaliener“ lautet ein Schlagwort.
Ein italienischer Putin?
Wladimir Putin hat am Freitag Berlusconi als „einen der grössten politischen Männer Europas“ bezeichnet. Er sei einer „der letzten Mohikaner der Politik“. Das sagt viel über Putin und wenig über Berlusconi aus.
Wird Berlusconi nach seinem Rücktritt ein italienischer Putin, der im Hintergrund die Fäden zieht und einen schwachen Medwedew vorschiebt? Daran glaubt die New York Times.
Einen Medwedew hat Berlusconi schon aufgebaut: Der Sizilianer Angelino Alfano wird von der Opposition als „treuer Dackel Berlusconis“ bezeichnet. Der 41jährige Alfano ist Parteivorsitzender von Berlusconis PDL-Block (Popolo della Libertà, Volk der Freiheit). Er gilt seit längerem als Kronprinz Berlusconis. Alfano war Justizminister und hat sich vor allem darum bemüht, Gesetze durchzupauken, die Berlusconi Straffreiheit bringen sollten. Charisma hat Alfano keines. Er wirkt wie ein nervöser Konfirmand.
Internationale Witzfigur
Berlusconi ist nicht Putin. Im Gegensatz zum Russen ist der 75jährige Berlusconi heute ein Verlierer, ein Davongejagter. Er hat diese Woche die Mehrheit im Parlament verloren. In den Meinungsumfragen sackte er ab. Er ist zur internationalen Witzfigur geworden, die Wirtschaft hat ihm jedes Vertrauen entzogen. Käme Berlusconi zurück, würde die Börse zusammenbrechen. Den Beweis dafür gab es diese Woche.
Die Wirtschaft hatte am Mittwoch nach Berlusconis verlorener Abstimmung gehofft, er würde sofort zurücktreten. Er trat nicht sofort zurück. Viele glaubten, er würde erneut nach einem Trick suchen, um sich an der Macht zu halten. Die Börse reagierte mit einem brüsken Absturz. Erst dieser Absturz besiegelte Berlusconis Schicksal endgültig. Staatspräsident Napolitano entschied: Annahme des Sparpakets innerhalb von drei Tagen. Und dann: sofortiger und definitiver Rücktritt Berlusconis.
Faustdicke Lügen
Wird Berlusconi nach seinem Abgang weiter Einfluss haben? Das wird schwierig. Berlusconi war der Sonnenkönig. Wer an seinem Hof diente, wurde mit Privilegien überhäuft: Geld, Geschenke, politische Ämter. Viele buhlten um seine Gunst – nicht aus ideologischen Gründen, sondern aus rein egoistischen. Wer hoch hinauswollte, musste dem Milliardär gefallen. Seine Gerissenheit und sein 7,8 Milliarden-Vermögen wirkten anziehend. So hielten ihm die meisten seiner Parteimitglieder die Stange, um ihre unverschämten Diäten und Privilegien nicht zu verlieren.
Sie hielten ihm auch dann die Stange, als seine Lügen, seine selbstherrlichen politischen Machenschaften und seine Frauengeschichten längst bekannt waren. Faustdick hat er das Volk belogen, als er – wider besseren Wissens - die wirtschaftliche Situation Italiens als „gesund“ verkaufte. Ebenso faustdick log er im Fall der 17jährigen Marokkanerin „Ruby“. All das akzeptieren seine Parteifreunde, um selbst nicht unterzugehen.
Verlierer werden einsam
Doch ein solches System funktioniert nur so lange, als der Kaiser wirklich Kaiser ist. Wenn das Monument wankt, beginnen die Claqueure zu desertieren. Man huldigt dem Sieger. Verlierer aber werden schnell einsam.
So geschah es jetzt. Seit einigen Monaten bröckelt die Statue des „besten Ministerpräsidenten Italiens“ (Berlusconi über sich selbst). Er, der sich gerne „Cavaliere“ nennen lässt, stürzte nicht über seine Frauengeschichten, über seine Geschmacklosigkeiten, über seine Lügen, über seine gescheiterte Politik. Er stürzte über die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise. Hätte diese Italien nicht erfasst, würde der Cavaliere weiterhin braungebrannt in die Kameras grinsen.
Doch jetzt fiel der Lack ab. Viele seiner einstigen Getreuen verlassen das sinkende Schiff. Wer nicht mehr die Macht hat, der kann auch keine Privilegien mehr gewähren. Verlierer nützen einem nichts. Je mehr die „Statue Silvio“ in den letzten Tagen taumelte, desto mehr Parteimitglieder wandten sich von ihm ab.
Neue Demütigung von Merkel und Sarkozy
In keinem andern Land gibt es so viele parteipolitische Umwälzungen: immer wieder neue Parteien, neue Namen, neue Formationen, neue Konstellationen. Und in keinem andern Land wechseln Parlamentarier so oft die Partei wie in Italien. Es ist nicht ausgeschlossen, dass jetzt auch Berlusconis Kernpartei, seine einstige Machtbasis, auseinanderbricht.
Deshalb wird es Berlusconi schwer haben, weiter die Fäden zu ziehen. Dazu kommt, dass er international völlig abgeschrieben ist. Die Ankündigung, dass Angela Merkel und Nicolas Sarkozy nach Rom reisen, um den neuen Ministerpräsidenten zu beglückwünschen, ist eine schreckliche Demütigung für Berlusconi.
Doch nicht nur das Berlusconi-Lager könnte auseinanderbrechen. Die Opposition war sich vor allem in einem einig: in ihrem Hass auf Berlusconi. Doch wenn ihr Lieblingsfeind weg ist, könnten die Streitereien auf der Linken und im Zentrum wieder voll ausbrechen. Die Opposition besteht aus fünf Hauptströmungen - und einem riesigen Reservoir an Streithähnen.
“Yes, I can“
Jetzt also, nach 3295 Tagen im Amt, ist er weg. Dabei war Berlusconi zu Beginn seiner politischen Karriere ein echter Hoffnungsträger. Anfang der Neunzigerjahre war das klassische italienische Parteiengefüge zusammengebrochen. Die beiden wichtigsten Parteien, die lange regierende Democrazia Cristiana (DC) und der Partito Socialista Italiana (PSI), waren in hässliche Korruptionsskandale verwickelt und lösten sich auf.
Da kam Berlusconi, der erfolgreiche und freche Unternehmer, und sagt: Yes, I can. Er sagt es anders, aber die Botschaft war die gleiche: „Ich bringe das verkrustete Land wieder auf Touren, ich bekämpfe die grässliche Bürokratie, ich bekämpfe Korruption und Verbrechen. Forza Italia. Seid wieder stolz, Italiener zu sein.“
Das Volk jubelte. Am 10. Mai 1994 wurde er erstmals Ministerpräsident. Zwar wurde er acht Monate später von seiner Allianz-Partnerin, der Lega Nord, gestürzt. Doch später gewann er noch zwei Mal die Wahlen und stand insgesamt drei oder vier Regierungen vor (je nach Zählweise).
Regiert wurde längst nicht mehr
Obwohl seine Regierungen nichts Substantielles durchsetzen konnte, vertrauten ihm die meisten Italiener. Vor allem auch weil er während des Wahlkampfes einen „Vertrag mit den Italienern“ abschloss. Darin verpflichtete er sich, die Steuern zu senken, die Arbeitslosenzahlen zu halbieren und die Mindestpensionen zu erhöhen. Ein Text, der sich heute wie Hohn liest.
Seine Bilanz ist kläglich. Fast 18 Jahre hätte er Zeit gehabt, Reformen durchzuführen. Er versprach dem Volk das Blaue vom Himmel. Nichts geschah, keine Reformen. Politisch war das Land gelähmt. Alles drehte sich nur um Berlusconi. Regiert wurde längst nicht mehr. Das Kabinett und das Parlament befassten sich nur damit, Gesetze zu verabschieden, die Berlusconi Straffreiheit bringen.
Berlusconi hat die politische Kultur in Italien mit Füssen getreten. Wie keiner vor ihm, hat er polarisiert, polemisiert und beleidigt. Wer ihm nicht zujubelte, wurde in die Hölle geschickt. Ein Brückenbauer war Berlusconi wahrlich nicht.
Die Kommunismus-Orgel
Er ist ein begnadeter Populist. Doch es brauchte auch ein Volk, das ihm seine plumpen Schalmeien abnahm.
Das begann schon im Januar 1994, als er in die Politik einstieg. In seiner ersten Rede versprach er, das Land vor dem Kommunismus zu schützen. Zwar gab es damals kaum mehr Kommunisten, aber das Volk jubelte. Dass zehn Mal mehr Faschisten als Kommunisten am Werk waren – davon sprach er nicht. 2008 flog auch die letzte kommunistische Splittergruppe aus dem Parlament. Doch bis heute dreht Berlusconi an der Kommunismus-Orgel.
Alle, die gegen ihn sind, sind Kommunisten, die roten Richter, die roten Staatsanwälte - und die Journalisten sowieso. Auch die New York Times, auch das Wall Street Journal.
Mit grotesker Unverschämtheit hat er gezeigt, dass er mit Geld alles niederwalzen kann, was ihm in den Weg kommt. Schon als Bauunternehmer schmierte er sich an die Macht, bestach später Parlamentsmitglieder und Minister. „Ich bin wie Napoleon, nur grösser“, sagte er einmal. Was wie ein Witz klang, war seine tiefe Überzeugung.
Wer keine Steuern hinterzieht, ist ein Dummkopf
Doch Italien war schon vor Berlusconi ein schwer lädiertes Land. Die Korruption hat sich längst tief in die Gesellschaft hineingefressen. Die Mafia – das ist nicht nur die Camorra und die N’drangheta: Mafia-ähnliche Praktiken funktionieren bis in die kleinsten Dörfern. Da wird bestochen und geschmiert. Wer keine Steuern hinterzieht, ist ein Dummkopf. Wer den Staat nicht betrügt, ist ein Esel. Staatlich zertifizierte Notare weisen einen an, wie man den Fiskus hereinlegt. Wer keinen einflussreichen Förderer hat, kriegt keine gute Stelle. Die Bürokratie behindert jedes wirtschaftliche Schaffen. „Damit ich zwanzig Ziegel auf dem Dach verlegen kann“, sagt Mario L., ein Maurer in der Toskana, „brauche ich zwölf Unterschriften, zwei Zusatzversicherungen, und 2‘000 Euro Schreibgebühren“.
“Das Land braucht ein neues Volk“
Das Land bräuchte das, was man etwas hilflos als „neue Kultur“ bezeichnet. Oder, wie es ein Politologe zynisch sagt: „Das Land braucht ein neues Volk.“ Aber alle wissen: eine neue Kultur schaffen – das ist Sache vieler Generationen.
So sind denn von Mario Monti, dem Super-Mario, keine Wunder zu erwarten. Doch als Parteiloser hat er immerhin den Vorteil, nicht auf parteipolitische Querelen achten zu müssen. Seine Aufgabe ist riesig. Er muss schmerzhafte Strukturreformen durchsetzen – Reformen, die dem Volk an die Substanz gehen.
Auseinandersetzungen mit den in Italien starken Gewerkschaften sind schon programmiert. Sie, die auf ewigen Besitzstand aus sind, haben immer wieder bewiesen, dass sie das Land mit Streiks lahmlegen können.
Doch fürs Erste feiern jetzt Berlusconis Gegner. Das sind laut letzten Meinungsumfragen immerhin 75 Prozent der Bevölkerung.
In SMS-Botschaften an „Repubblica“ liest man auch Böses: „1945 erlösten uns die Amerikaner vom Faschismus, jetzt erlösen uns die Deutschen und Franzosen von Berlusconi“.