Als sich das Unheil der Hitler-Diktatur über Deutschland zusammenbraute, in den Jahren 1929 bis 1933, befand sich ein junger, neugieriger Engländer aus gutem Haus in Berlin und gab Sprachstunden. Der junge Mann hiess Christopher Isherwood, und aus den Erfahrungen, die er während seines Auslandaufenthaltes machte, wurde sein bekanntestes Buch: «Goodbye to Berlin.» Was in diesem Buch geschildert wird, ist nicht weniger als der Zerfall einer demokratischen Gesellschaft und deren Unterwanderung durch den Totalitarismus. Der Umstand, dass der Autor seine Zeitdiagnose humorvoll und leichtfüssig zu formulieren weiss, täuscht über den Ernst der politischen Lage nicht hinweg.
Über seine Lehr- und Studienjahre hat Isherwood in seinen autobiografischen Aufzeichnungen «Lions and Shadows» berichtet. Sie zeigen einen literarisch hochbegabten, beruflich unschlüssigen Menschen, der nach mancherlei Beschäftigungen und nach einem abgebrochenen Medizinstudium England verlässt. Im Jahre 1929 wechselt Isherwood vom sittenstrengen London ins verführerische Berlin. Zusammen mit dem Dichterkollegen H.W. Auden taucht er in die Schwulenszene von Berlin-Kreuzberg ab, frequentiert übel beleumdete Bars und Kneipen, trifft sich mit Strichjungen, Transvestiten und Gigolos. Mit Auden besucht er 1938 das von Krieg und Bürgerkrieg gebeutelte China. Als der Zweite Weltkrieg ausbricht, verlassen Isherwood und Auden England, emigrieren nach den USA und ziehen sich die Kritik ihrer patriotischen Landsleute zu.
Kamera mit offenem Verschluss
«Goodbye to Berlin» ist kein Roman im üblichen Sinne, sondern eine Sammlung von sechs Episoden, von denen fünf in Berlin spielen und eine auf Rügen angesiedelt ist. Auch diese Texte sind autobiografisch geprägt, sie erstreben und erreichen aber eine Wirkung, die über das Subjektive weit hinausgeht. Oft zitiert werden die Sätze, mit denen Isherwood im Vorwort sein Vorgehen erläutert: «Ich bin eine Kamera mit offenem Verschluss», schreibt er, «ganz passiv, ich nehme auf, ich denke nicht. Ich nehme den Mann auf, der sich gegenüber am Fenster rasiert, und die Frau im Kimono, die sich die Haare wäscht. Eines Tages muss das alles entwickelt werden, sorgfältig abgezogen, fixiert.»
Am bekanntesten ist jene Episode von Isherwoods Werk geworden, die den Titel «Sally Bowles» trägt. Sally ist Engländerin, hat die Schauspielschule vorzeitig verlassen und statt im Studentenheim in den verschiedensten Junggesellenwohnungen genächtigt. Sie ist ein munteres, lebenslustiges, etwas überdrehtes Wesen, frei von auch nur leisesten Anflügen moralischer Skrupel, kaum zwanzig Jahre alt. Zu dem Zeitpunkt, da Isherwood ihr begegnet, tritt sie in der Künstlerbar «Lady Windermere» als Sängerin auf. Weit weniger talentiert als Marlene Dietrich im «Blauen Engel», hat Sally dieselbe tiefe, rauchige Stimme. Sie verfügt selten über Geld und lässt sich von reichen Männern aushalten. Sie möchte zum Film; stattdessen wird sie schwanger, weiss nicht von wem und lässt ihr Kind abtreiben.
Goldene Zwanziger
Sally Bowles verkörpert die helle, glanzvolle Seite der «Goldenen Zwanziger». Am Horizont aber zieht bereits bedrohliches Gewölk auf: Banken gehen pleite, Menschenmassen demonstrieren in den Strassen, Notverordnungen werden erlassen. Als der Reichskanzler Hermann Müller 1931 stirbt, werden Sally, ein Freund und der Erzähler Isherwood Zeugen der Begräbnisfeierlichkeiten. «Sie trugen Hermann Müller zu Grabe», schreibt der Erzähler. «Blasse, standhafte Büroangestellte, Beamte, Gewerkschaftssekretäre – der ganze triste Mummenschanz der preussischen Sozialdemokratie – trotteten mit ihren Bannern auf die Silhouette des Brandenburger Tores zu.» Und weiter: «Mit den marschierenden Deutschen da unten hatten wir nichts zu schaffen, so wenig wie mit dem Toten im Sarg und den Losungen auf den Bannern.»
Berühmt wurde dieses Kapitel von Isherwoods Buch durch Musical und Film. Im Jahr 1972 kam der Film «Cabaret» von Bob Fosse in die Kinos. Die amerikanische Sängerin und Schauspielerin Liza Minnelli spielte die Sally Bowles mit einer Brillanz, welche der Romanfigur zwar wenig gerecht wurde, jedoch das Klischee vom den «Goldenen Zwanzigern» bestätigte. Es war Minnellis grösste Rolle.
Fräulein Schröder und Frau Nowak
In den andern Episoden von Isherwoods Buch werden, pointiert und treffsicher, Personen porträtiert, mit denen der Autor während seines Berliner Aufenthalts in nähere Berührung kam. Da ist zuerst das Fräulein Schröder, welches Isherwood, den «Herrn Issiwu», ins Herz geschlossen hat. Fräulein Schröder hat vor der Inflation ein Dienstmädchen beschäftigt, ist im Urlaub an die Ostsee gefahren und hat einen Rittmeister und einen Professor als Zimmerherren gehabt. Nun ist ihre Pension heruntergekommen, und ihre Untermieter sind neben Isherwood der Barkeeper Bobby, eine Dirne und eine bayrische Jodlerin vom Variététheater.
Eine andere Vermieterin, bei der Isherwood später eine dürftige Unterkunft bezieht, ist Frau Nowak, die mit ihrer Familie in ärmlichsten Verhältnissen am Halleschen Tor wohnt. Frau Nowak ist schwindsüchtig und spuckt Blut, ihr Mann, von Beruf Möbelpacker, ist Alkoholiker und kommt von seinen Kriegserinnerungen nicht mehr los. Der eine Sohn, Lothar, ein Nationalsozialist, ist arbeitslos und besucht eine Abendschule. Der andere Sohn, Otto, ebenfalls arbeitslos, ist bisexuell, macht einen Selbstmordversuch und glaubt an die Notwendigkeit einer kommunistischen Revolution.
Herzschlag in Deutschland ganz schön häufig
Eine ganz andere gesellschaftliche Welt führt das Kapitel vor, das mit dem Titel «Die Landauers» überschrieben ist. Die Landauers repräsentieren das jüdische Grossbürgertum. Der Vater, ein freundlicher, gebildeter Herr, hat sich zum Mitbesitzer des grossen Kaufhauses emporgearbeitet, das seinen Namen trägt. Die Familie wohnt in grosszügigen und elegant möblierten Interieurs, verfügt über angenehme Umgangsformen und begegnet dem englischen Gast mit zuvorkommender Freundlichkeit. Die Tochter Natalie ist wohlerzogen und selbstbewusst. Ihr Cousin Bernhard ist ein blasser junger und wohlgekleideter Mann, der selbstsicher auftritt und im Gespräch zu herablassender Ironie neigt.
Isherwood freundet sich mit Bernhard an. Er entdeckt in ihm einen sensiblen, von Selbstzweifeln umgetriebenen Menschen mit homoerotischer Veranlagung, der die menschliche Nähe sucht und ihr doch immer wieder ausweicht. Von Zeit zu Zeit erhält Bernhard Briefe, die so lauten: «Bernhard Landauer, pass bloss auf. Wir rechnen mit dir und deinem Onkel und allen Saujuden ab.» Später, nach dem Reichstagsbrand und nach dem Boykott der jüdischen Geschäfte, verlässt Isherwood Berlin. In einem Prager Kellerrestaurant hört er, wie zwei Gäste sich auf Deutsch unterhalten. Er erfährt, dass die Zeitungen gemeldet haben, Bernhard Landauer sei überraschend an einem Herzschlag gestorben. Sagt der eine der beiden Gäste: «Herzschlag ist in Deutschland ganz schön häufig.» Darauf der andere: «Wenn Sie mich fragen, kriegt jeder einen Herzschlag, der eine Kugel im Herzen hat.»
Nordische Zucht und Ordnung
Im Sommer 1931 verbringt Isherwood seine Ferien mit Otto Nowak und einem englischen Freund auf der Insel Rügen. Der Strand, schreibt er, gleiche mit seinen Sandburgen, Strandkörben und Flaggen einem Heerlager: «Viele Burgen sind mit einem Hakenkreuz dekoriert. Eine Tages sah ich ein splitternacktes, vielleicht fünfjähriges Kind, das ganz allein mit geschulterter Hakenkreuzflagge umhermarschierte und ‚Deutschland über alles‘ sang.» Auf Rügen begegnet der Erzähler einem Arzt, einem Anhänger der nationalsozialistischen Rassenlehre und überzeugten Antisemiten. «Neulich war ich», ärgert dieser sich, «auf Hiddensee. Lauter Juden! Es tut mir wohl, wieder hier zu sein und den echten nordischen Typ zu sehen.» Die politischen Probleme, fährt der Arzt fort, liessen sich durch Disziplin leicht lösen. «Meine Arbeit im Krankenhaus», erzählt er, «hat mich davon überzeugt, dass der Kommunismus bloss eine Sinnestäuschung ist. Was die Leute brauchen, ist Zucht und Ordnung. Als Arzt kenne ich mich da aus.»
Christopher Isherwoods Roman ist nicht das einzige, wohl aber das aussergewöhnlichste und wohl wichtigste literarische Zeugnis, das wir von einem Engländer über Deutschland vor der nationalsozialistischen Machtübernahme besitzen. Dass Engländer nach Deutschland reisten, als Touristen und Studenten, war damals nicht selten. Die Nationalsozialisten begrüssten diese Besucher sogar besonders zuvorkommend als Vertreter einer ebenbürtigen Herrenrasse, und manche von ihnen spielten damals noch mit dem Gedanken, sich das Land als Bündnispartner zu gewinnen. Viele Engländer waren fasziniert vom politischen Umsturz, dessen Zeugen sie wurden. Die meisten reagierten kritisch, einige verhielten sich abwartend, nur wenige waren begeistert. «Das heutige Deutschland», schrieb Harry Powys Greenwood 1934 in seinem Bericht über die «Deutsche Revolution», «ist wie ein siedender Kessel voll geschmolzenem Metall. In welche Form es gegossen wird, lässt sich zurzeit noch nicht absehen.»
Distanziert und authentisch
Das Aussergewöhnliche an Isherwoods «Goodbye to Berlin» ist, dass den Erzähler die mit pointierter Präzision dargestellte Realität emotional nicht zu berührten scheint. Der Autor versagt sich nicht nur jedem Affekt, sondern auch jedem Kommentar und jeder persönlichen Stellungnahme. Er stellt bloss fest. Die Kamera, die er auf Berlin und die Berliner richtet, lässt keine Nähe, keine Vertrautheit zu, sondern schafft Distanz. Dadurch wirken Isherwoods Aufzeichnungen in hohem Grade authentisch.
Nach seiner Auswanderung in die USA im Jahre 1939 liess sich Christopher Isherwood in Santa Monica bei Los Angeles nieder, wurde nach dem Krieg amerikanischer Staatsbürger und schrieb Drehbücher für Hollywood. Er bekannte sich zum Pazifismus und zur Homosexualität, vertiefte sich in die indische Philosophie und wurde Anhänger der südkalifornischen Vedanta-Schule von Swami Prabhavananda. An der University of California in Santa Barbara hielt er Vorlesungen zur neueren englischen Literatur. In Santa Monica lebte Isherwood nach 1953 mit dem um dreissig Jahre jüngeren Maler Don Bachardy, einem Porträtisten der Hollywood-Prominenz, zusammen.
Isherwood schrieb weitere Bücher, darunter im Jahre 1964 einen wiederum stark autobiografisch gefärbten Roman, den Kenner für seinen besten halten: «A Single Man» (2009 kongenial verfilmt von Tom Ford mit Colin Firth in der Hauptrolle). Er handelt von einem Tag im Leben des homosexuellen 58jährigen Literaturdozenten George, der seinen Freund Jim verloren hat. Eines Morgens stellt George vor dem Spiegel fest, wie alt er geworden ist. Abends begegnet er in einer Bar seinem Studenten Kenny Porter, und man betrinkt sich. Gemeinsam geht man hinab zum Strand des stürmisch bewegten Pazifiks. Aus dem gemeinsamen nächtlichen Bad mit Kenny geht George verjüngt hervor. Im Roman «A Single Man» wird der Alltag einer amerikanischen Universität mit derselben kühlen Eindringlichkeit geschildert, die schon den Berliner Roman auszeichnete.
Die Beziehung zwischen Isherwood und Bachardy, der Öffentlichkeit ostentativ vorgelebt, erregte Aufsehen. Der Roman «A Single Man» wurde zu einem Kultbuch der amerikanischen Homosexuellen. Als der Schriftsteller schwer erkankte, porträtierte ihn sein Freund mit derselben obsessiven Hingabe wie Hodler seine todkranke Freundin Valentine Godé-Darel. Christopher Isherwood starb im Januar des Jahres 1986.