In der Genfer Primarschule „Seujet“ werden die Schüler gefragt, welches die berühmtesten Genfer sind. Eine Neunjährige antwortet: Jean Calvin, Henry Dunant – und Christa de Carouge.
Das war Ende der Achtzigerjahre. Die Neunjährige war Tochter modebewusster Eltern der oberen Genfer Mittelklasse: Eigentumswohnung, Alfa Romeo, Club 58.
Christa de Carouge, die in Genf Furore machte, hatte zunächst gar nichts mit der Genfer Vorortsgemeinde Carouge zu tun. Sie war die Christa Furrer vom Zürcher Stadtkreis 6. Ein Mädchen mit Zöpfen – und Talent.
Viel, viel später treten an ihren Modeschauen lebende Schafe auf, Palmzweige werden getragen. Einmal werden hundert Kilo Schwarztee-Blätter ausgestreut, um die Zuschauer einzustimmen. Weisses Salz wird ausgestreut und soll an Schnee erinnern. Ein Model liegt auf einem Bett aus hundert grünen Salatköpfen. Das Publikum jubelte – und kaufte und kaufte.
Die Erfolge fliegen ihr zu
Christa de Carouge und ihrem Mann sprudelte das Geld nur so zu. Beide ertranken im Reichtum. Extravagantes Haus in der Vorortsgemeinde Onex, Schwimmbad. Ihr Mann kaufte sich einen Bentley, dann einen Lamborghini. Die Mätressen musste er sich nicht kaufen.
Es war ein wildes Leben, das die jetzt 77-jährige Christa da hinlegte: wild und erfolgreich. Heute ist es ruhiger um sie geworden. Carouge c’est fini. Auch die Läden im Ausland und in Zürich wurden geschlossen. Der Zürcher Autor Georg Weber hat jetzt eine bis ins Detail recherchierte Biografie über Christa de Carouge geschrieben. Es entstand ein Bild, das eine Frau zeigt, die vor Kreativität überschäumt und der die Erfolge während langer Zeit nur so zuflogen. (1)
Jean-Paul Sartre, etc.
Christa Furrer wird am 5. August 1936 in Basel geboren und lebt mit ihren Eltern und vier Geschwistern an der Universitätsstrasse in Zürich-Oberstrass. Die Mutter ist Schneiderin. Der Vater ist Chef der kalten Küche im Hotel Baur au Lac. Da hat die Tochter etwas mitbekommen. „Neben dem Kleidermachen ist das Kochen für mich die schönste Beschäftigung“, sagt sie heute. Der Vater bildet auch junge Talente aus, unter anderem die Kochlegende Anton Mosimann.
Luftalarme während des Krieges sind üblich. Christa empfindet sie manchmal als vergnüglich. Alle flüchten in die Keller und eine Bäckersfrau verteilt Nussgipfel und Biskuits. Ganz in der Nähe jedoch, an der Frohburgstrasse und In der Hub schlagen einmal Bomben ein.
Christa spielt auf der Handharmonika und geht in den Musikklub Spahni am Zürcher Schaffhauserplatz. Sie kann zeichnen und Schlittschuh laufen. Selbst den Rittberger, den Lutz und den Axel legt sie hin. Sie besucht die Kunstgewerbeschule und verkehrt im Odéon oder im Select, den Literatencafés am Zürcher Limmatquai. Diskutiert wird über Jean-Paul Sartre und die Gedanken des Existentialismus.
Der schöne junge Mann mit dem Badetuch
Sie arbeitet jetzt als Graphikerin in der Agentur Gisler & Gisler. Sie kreiert Plakate, Anzeigen und Broschüren. Sie wirbt für Thomy Mayonnaise und die Schweizerische Käseunion. Und sie konzipiert die legendären Toblerone-Plakate, auf denen ein kleines Mädchen ihrem Vater die Hand gibt. In der andern Hand hält sie eine Toblerone.
Dann kommt ein Sommersonntag im Jahr 1958. Im Zürcher Wellenbad Dolder legt ein schöner junger Mann sein Badetuch neben sie. Rudi Hegetschweiler arbeitete in gutbezahlter Stelle beim Kleiderhersteller Wormser-Blum. Und er hatte einen VW-Käfer – und er spielte Eishockey bei den Grasshoppers.
Christa folgt Rudi nach Lausanne, nach Paris und schliesslich nach Genf, das „petit Paris“ von dazumal. 1963 heiraten die beiden in der alten Kirche Witikon in Zürich. Christa erhält in Genf eine Stelle beim Warenhaus Grand Passage. Finanziell geht es aufwärts. Beide vergnügen sich im Club 58 oder im Griffin’s. Christa fährt einen roten Morris Mini, das Kultauto jener Zeit.
Das Geld sprudelt
Dann beginnt ein Leben im Überfluss. Die beiden eröffnen nahe des Genfer Hauptbahnhofs eine Boutique. Die Leute reissen sich um ihre Ware. Während der Eröffnung der „Boutique pour Monsieur“ stehen die Kunden mit Gläsern bis aufs Trottoir hinaus und trinken Walliser Weisswein. Es herrscht Aufbruchstimmung, die beiden treffen den Zeitgeist. Noch sind es keine Eigenkreationen, die angeboten werden.
Es folgt ein zweiter Laden, „La Garçonne“ in der Grand-Rue in der Altstadt. Nach und nach bietet Christa Eigenkreationen an, die sie in Lausanne und im freiburgischen Romont schneidern lässt. Einblick in die Buchhaltung gewährt Rudi seiner Christa nicht. Der Erfolg ist so gross, dass die „Boutique pour Monsieur“ in die Rue de la Croix-d’Or, eine der wichtigsten Einkaufsstrassen, umzieht.
Das Haus in Onex wird teuer umgebaut. In einer berühmten Londoner Zucht werden zwei Irish Red Setter erstanden. Ihre Einladungen werden zum Stadtgespräch, vor allem das Silvesterbuffet mit kaltem Truthahn.
„Wir hatten zu viel Geld“
Den Bentley und den Lamborghini vertauscht Rudi schliesslich mit einem Rolls-Royce. Christa sagt rückblickend: „Wir hatten zu viel Geld, zu grosse Autos, und mein Mann leistete sich zu viele Mätressen.“
1971 reicht sie die Scheidung ein, verheiratet sich kurz danach mit einem St. Galler Textilfachmann und lässt sich neun Monate später wieder scheiden. Dann stirbt ihr Vater, Rudi erscheint zur Beerdigung und fordert Christa auf, erneut nach Genf zu kommen und die Geschäfte weiterzuführen. Sie tut es, doch nicht für lange. Rudi hat inzwischen eine andere Frau.
Christa zieht sich aus dem Geschäft zurück und findet in der Rue Saint-Victor im historischen Zentrum von Carouge ein leer stehendes Lokal. Carouge, das katholische Pendant zum protestantischen Genf, ist damals eine lebenslustige, gesellige kleine Stadt, in der man jeden und jede leben liess.
Stil der Reduktion
Hier, im Haus Nummer 11, beginnt die Geschichte der „Christa de Carouge“. Schnell hat sie Erfolg, doch erst nach fünf Jahren konzentriert sie sich vollständig auf eigene Kreationen: klare Linien, wertvolle Materialien, Zweckmässigkeit. Die erste Kollektion schlägt sofort ein und ist innert drei Wochen ausverkauft. „Die Tür blieb immer offen“, schreibt ihr Biograf, „und immer wieder setzte sich die Inhaberin mit ihren Kunden und Bekannten ins Hinterzimmer und trank Weiss- oder Rotwein.“
Der Bürgermeister von Carouge, Pierre Hiltbold, veranlasste, dass der Künstlername „Christa de Carouge“ in allen Registern und auch im Pass eingetragen wurde.
„Ihre Kleider bringen eine Einheit von Formen, Farben, Material und Zweck zum Ausdruck“, schreibt Georg Weber. „Sie hat einen Stil der Reduktion entwickelt.“ Und alles wird in der Schweiz gefertigt. „Perfektion nicht zu erreichen ist keine Schande, sie nicht anzustreben, ja.“
„Buntheit erschöpft sich schnell“
Eine erste Reise nach Japan, im Sommer 1984, prägt sie und ihre Kleider. Immer wichtiger wird die „Reduktion eines Ganzen auf wenige Grundelemente“. „Buntheit mag wohl eine Weile verblüffen“, sagt sie, „erschöpft sich aber schnell. Eine klare Linie ist wichtig – gerade im Kreativen.“ Da die meisten ihrer Kleider schwarz sind, wird sie in Genf als „La dame en noir“ bezeichnet.
Ihre Modeschauen finden hauptsächlich im Halbdunkel statt. Fackeln werden eingesetzt, Visionen und Traumbilder produziert. Immer wieder Anklänge an das Sakrale.
Die Aufträge häufen sich. Selbst das Westschweizer Fernsehen bestellt bei ihr. In der Mühle Tiefenbrunnen in Zürich eröffnet sie eine Zweigstelle. Präsent ist sie jetzt auch in Boutiquen am Kurfürstendamm, in Düsseldorf und in Stuttgart. Später folgt eine Boutique am Wiener Bauernmarkt.
** «Christa ne sera plus de Carouge.»**
Dann entscheidet sich Christa, sich auf Zürich zu konzentrieren. Die Zusammenarbeit mit deutschen Boutiquen wird beendet, auf Wien wird verzichtet. Nach 26 Jahren zieht sie aus Carouge aus. „Christa ne sera plus de Carouge“, schreibt die Genfer Zeitung „Le Temps“.
Acht Jahre hatte sie mit André Hirzel zusammengelebt, einem viel jüngeren Mann, den sie im Café des Négociants in Carouge, ihrem Stammlokal, kennengelernt hatte. 2009 stirbt André an Krebs. Er hatte immer ihre Kleider getragen, in Carouge und Zürich. Er stand Modell bei Fotoaufnahmen.
„Nur ich selbst kann meine Mode verkörpern“, sagt sie ihrem Biografen. Deshalb denkt sie auch nicht an einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin. Jetzt beschliesst sie, auch den Laden in der Mühle Tiefenbrunnen zu schliessen. „Es gilt die Grenzen der eigenen Kraft zu erkennen. Ich will auf dem Höhepunkt abtreten und nicht gezwungen werden.“ Jetzt lebt sie im Zürcher Seefeld-Quartier. Sie hat einen Spaniel namens Sushi. „Meine Tür ist immer offen.“
Und: „Ich will auch über meinen Tod verfügen können und niemals in Abhängigkeit geraten“, sagt sie. Doch man wird noch viel von ihr hören, der Tod ist weit. Ihre Mutter ist über hundert.
P.S: Ursula Frei vom Edward Quinn Archive, Hombrechitikon teilt uns mit:
Ich habe Ihren Text über Christa de Carouge mit Interesse gelesen und viel Neues über sie erfahren – obwohl ich sie eigentlich zu kennen glaubte. Den letzten Satz müssten Sie etwas umformulieren, weil Christas Mutter vor ca. 2 Wochen gestorben ist. Ich glaube sie wurde 104 Jahre alt.
(1) Georg Weber: Christa de Carouge – Schwarz auf Weiss. Zürich: Römerhof Verlag. Hardcover, 255 Seiten, CHF 44.00, mit vielen Fotos ISBN 978-3-905892-21-9