Eine Bemerkung vorab: Es gibt die Angewohnheit, Bildbände irgendwo in der Mitte aufzuschlagen und dann mehr oder weniger ungeduldig hin- und herzublättern. Mit dem Band über China von Fotografen der Agentur Magnum sollte man es nicht so halten.
Opus Magnum
Denn dieser Band bietet eine Reise, die Station für Station erlebt sein will. Aufgrund der Qualität seiner Bilder und der Sorgfalt seiner Edition könnte man ihn auch etwas altmodisch ein „Opus Magnum“ nennen – womit wir dem Namen nach wieder bei der Fotoagentur wären.
Der Band der Agentur Magnum setzt mit dem Jahr 1938 ein. Den einzelnen Kapiteln sind Chronologien und kurze, äusserst präzise Überblicksartikel ausgewiesener Fachleute vorangestellt. Und zu jeder Fotografin und jedem Fotografen gibt es am Anfang ihrer Bildstrecken Erläuterungen, aus denen hervorgeht, was diese Fotografen motiviert hat und wie ihre Bilder entstanden sind. So handelt dieser Band nicht nur von China, seinen Menschen, seinen wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen, sondern auch von der Fotografie. Man schaut den renommierten Magnum-Fotografen bei ihrer Arbeit zu.
Gewalt, Krieg, Massaker
Die Spannweite der Themen ist gross. Das Jahr 1938, mit dem der Band einsetzt, war durch Gewalt und Krieg geprägt. Die Japaner fielen in China ein, und es kam zu Massakern. Hunderttausende flohen, um ihre nackte Haut zu retten. Renommierte Fotografen wie Robert Capa und Henri Cartier-Bresson waren damals im Land und haben diesen Schrecken in ihren Fotos Ausdruck verliehen.
Der zweite Abschnitt des Bildbandes erstreckt sich von 1950 bis 1976 und hat das Regime von Mao Zedong zum Thema. Der Fokus ist aber nicht zu eng. So findet man Bilder von Werner Bischof aus Hongkong und mag kaum glauben, wie elend das Leben Anfang der 1950er Jahre in dieser Stadt war. Und René Burri hat sich bis zum Hauptquartier Maos vorgearbeitet. Daneben finden sch aber auch Arbeiten anderer Magnum-Fotografen, die nicht weniger eindrucksvoll sind.
Fotografinnen
Die Ära unter Deng Xiaoping wird im dritten Teil dargestellt. Er umfasst die Jahre von 1977 bis 1992. Hier kommen zwei weltbekannte Fotografinnen zum Zuge: Eve Arnold und Inge Morath. Ihre Bilder gehören zu den eindrucksvollsten und besten dieses Bandes. Aber auch anderen Fotografen gelingt es, Chinas Weg in die Moderne mit den Licht- und Schattenseiten darzustellen. Besonders reizvoll ist der Vergleich der Bilder Hongkongs von Patrick Zachmann, die 1987 und 1988 entstanden sind, mit denen von Werner Bischof aus den 1950er Jahren.
Das Schlusskapitel befasst sich mit China als Supermacht und umfasst die Zeit von 1993 bis heute. Hier findet man die grösste Spannung zwischen den Themen und Perspektiven. So hat Chien-Chi Chang in einer Psychiatrie auf Taiwan Insassen fotografiert, die jeweils zu zweit mit Ketten aneinander gefesselt sind. Diese Bilder sind schwarzweiss und vermitteln geradezu surrealen Schrecken. In einem weiteren Kapitel beschreibt Chien-Chi Chang eine Reise durch China, die er mit Nordkoreanern, die nach Südkorea fliehen wollten, angetreten hat. Die Angst vor einer möglichen Entdeckung hat er atmosphärisch dicht zum Ausdruck gebracht.
Opfer der Modernisierung
Während man Furcht und Schrecken in grossen Teilen der vergangenen und zum Teil noch fortdauernden diktatorischen Macht der kommunistischen Partei Chinas anlasten kann, gibt es in der Gegenwart auch Schattenseiten, die mit dem Modernisierungsprozess selbst verbunden sind. Ein Beispiel dafür ist die Energiegewinnung. Der Fotograf Ian Berry hat Bilder vom Bau des Drei-Schluchten-Staudamms gemacht und zeigt das Elend derjenigen, deren Wohngebiete den Fluten des gewaltigen Stausees zum Opfer fallen sollten.
Luxus
Auf der anderen Seite stehen der Aufbruch und der Glanz des modernen Lebens. Der britische Fotograf Martin Parr hat sich auf die Themen Konsum und Luxus spezialisiert. Ihm gelingen buchstäbliche Hochglanzfotos, aber immer wieder schimmern Ironie und Witz durch. Seine Bilder haben etwas Amüsantes.
Wohin wird der Weg Chinas führen? Der westliche Luxus ist ganz sicher ein Ziel, aber aus der Vergangenheit heraus ergeben sich noch andere Orientierungen. Die Bilder und begleitenden Texte eröffnen Einblicke, aber sie wahren auch Distanz. Mit diesem Band hat der Verlag Schirmer/Mosel sein diesjähriges Glanzstück vorgelegt.
Magnum China. Herausgegeben von Colin Pantall und Zheng Ziyu. Mit weiteren Texten von Jonathan Fenby. 376 Seiten, 364 Abbildungen in Farbe und Duotone, € 49.80 €(A) 51.20 CHF 57.30