Chinas Zivilisation ist hydraulisch, Wasserbau und Gesellschaft sind eng verzahnt: Aufgaben des Flutschutzes, der Bewässerung und des Transports bestimmten von jeher die chinesische Haltung zum Wasser. Sie ist notgedrungen manipulativ; schon Yü der Grosse, ein legendärer Herrscher der Vorgeschichte, machte sich daran, den Gelben Fluss, seit jeher Chinas Sorgenstrom, mit Dämmen, Deichen und Ableitungen zu zähmen. Mit wasserbaulichen Eingriffen konterkarieren Chinas Ingenieure Vorgaben der Natur. Die grossen Flusssyteme verlaufen alle von West nach Ost, aber politisch und verkehrstechnich dominiert in China die Nord-Südachse.
Der Grosse Kanal vernetzt den Gelben Fluss, den Yangtze und drei weitere Flusssysteme, den Hai, den Huai und den Qiantang. Er war, vergleichbar der Grossen Mauer, ein Mammutprojekt, das nie fertig wurde – nie fertig werden konnte. Verbreiterung (auf bis zu 40 Meter), Verlängerung, Vertiefung, Entschlammung, Neutrassierung, Ersatz von Rutschbahnen und Rampen durch Schleusen (zur Überwindung von insgesamt 45 Metern Höhe) – Umsicht, Unterhalt und Erneuerung wechselten mit jahrhundertelanger Vernachlässigung. Der Bau des Kanals begann in grauer Vorzeit. Aber der chinesische Antrag zuhanden des Welterbekomitees verankerte ihn zeitlich fest: im Jahre 486 v. Chr. verband König Fuchai von Wu mit einem Stichkanal den Yangtze mit dem Huai. Später bauten die Herrscher der Sui Dynastie (581–618) den Kanal aus. 5,5 Millionen Arbeitssklaven sollen in sechs Jahren über 2000 Kilometer Kanal fertig gestellt haben. Maloche, Mangelernährung und Krankheiten rafften Zehntausende Zwangsarbeiter dahin. Ein Sui-Kaiser paradierte in dem modernisierten Kanal mit einer hundert Kilometer langen Schlange von Prunkbarken. Als sich Marco Polo 1275 bis 1291 in China aufhielt, wurde der Grosse Kanal gerade wieder einmal saniert: der Mongolenherrscher Kublai Khan, Marco Polos Dienstherr, war in seiner neuen Hauptstadt, dem heutigen Beijing, auf den Wassertransport von Getreide aus dem Süden angewiesen.
Vom Blutzoll, den sein Bau forderte, mal abgesehen, erwies sich das Meisterwerk im Wasserbau als Bereicherung sondergleichen. Der Grosse Kanal belebte und befruchtete nicht nur die Wirtschaftsräume, die Orte und Landschaften, die er erschloss. Landesweit wirkte er sich politisch, sozial und kulturell aus. Namentlich die Städte am Südende des Kanals kamen zu Wohlleben und Wohlstand. Eine chinesische Redensart hält die Städte Suzhou und den Hafen Hangzhou, letzterer die Endstation des Kanals, für die Orte mit den besten Lebensbedingungen auf der ganzen Erde.
Die Würde der Auszeichnung als Welterbe 2014 brachte für den Grossen Kanal auch Bürden und Fesseln. Bestenfalls gibt es noch Retuschen – wesentliche Veränderungen sind nicht mehr erlaubt. Er spielt weiterhin eine Rolle im Flutschutz als Auffangreservoir für Hochwasser , als Wasserspender für den landwirtschaftlichen Bewässerungsanbau und im Nahverkehr. Wie dicht dieser sein kann, zeigt das Bild des Kanals in der Stadt Suzhou, einer Strecke, auf der sich besonders lange Schleppzüge von Transportbarken schlängeln. Der Grosse Kanal ist auch heute noch stark infarktgefährdet. – Jahr des Flugbilds: 1987 (Copyright Georg Gerster/Keystone).