Mit Kamala Harris’ Annahme ihrer Nomination ist der Parteitag der Demokraten mit viel Pomp zu Ende gegangen. Pathetische Versprechen wurden gross, konkrete Inhalte aber klein geschrieben. Das Thema Gaza blieb weitgehend aussen vor. Dafür kriegte Donald Trump sein Fett ab.
Der 13. Parteikonvent der Demokraten (DNC) wäre diese Woche in Chicago mutmasslich ohne Kamala Harris über die Bühne gegangen, hätte es an einem Dienstag im Oktober 2010 nicht jene 47 Sekunden einer Debatte gegeben, während denen Harris’ Gegner im Rennen um die Generalstaatsanwaltschaft Kaliforniens die Frage eines Reporters der «Los Angeles Times» ohne zu zögern zu ehrlich beantwortete. Die Frage lautete, ob er, der Republikaner Steve Cooley, falls gewählt, sowohl Lohn als Generalstaatsanwalt als auch eine Pension als früherer Bezirksanwalt beziehen würde, was zusammen mehr als 400'000 Dollar ausgemacht hätte.
Noch ist umstritten, wer damals in Harris’ Wahlkampfteam als erster die Idee hatte, Cooleys ungeschminkte Aussage zu einem 30-sekündigen Werbespot zu verarbeiten. Auf jeden Fall verfing der mit dem letzten Geld aus der Wahlkampfkasse finanzierte Spot und Kamala Harris wurde, wenn auch nur knapp, ins Amt gewählt, obwohl der «San Francisco Chronicle» den lange Zeit führenden Gegenkandidaten bereits als Sieger vermeldet hatte: «Cooley schlägt Harris». Mit dem Sieg auf Ebene eines Bundesstaates war Kamala Harris’ politische Laufbahn lanciert und auf die Wahl als höchste Vertreterin der Justiz Kaliforniens folgte 2016 der Aufstieg in den US-Senat. Der Rest ist Geschichte.
So war es unter Umständen dank dieser 47 Sekunden vor 14 Jahren möglich, dass Kamala Harris’ Karriere am Donnerstagabend mit der Abschlussrede vor dem Parteitag der Demokraten im United Center ihren vorläufigen Höhepunkt erlebte – einer Convention, die wie ihr republikanisches Gegenstück im Juli ein Marathon-Infomercial war, eine bis ins letzte Detail getaktete TV-Show, mit der die Partei ihre angeblich unübertroffenen Tugenden anpries, wie der Pulitzerpreis-gekrönte Journalist Buzz Bissinger meint: «Von Zeit zu Zeit gibt es eine tolle Rede, so wie Obama sie (2008) hielt, die sein am Ende erfolgreiches Bemühen um die Präsidentschaft in Gang setzte. Meistens aber sind die Reden zu lang und zu ausschweifend, obwohl sie helfen, die schlechtesten Charakterzüge eines Kandidaten zu entlarven.»
Zwar wurden im United Center viele Reden gehalten, doch die meisten genügten vier Abende lang den nicht allzu hoch geschraubten Ansprüchen der rund 4’700 enthusiastisch gestimmten Delegierten. In Chicago sprachen demokratische Gouverneure, Senatoren und Abgeordnete, die Präsidentenpaare Hillary & Bill Clinton und Michelle & Barack Obama, Sport- und Showgrössen, Film- und Fernsehstars sowie, am Mittwochabend lautstark gefeiert, Vizepräsidentschaftskandidat «Coach» Tim Walz.
Und natürlich, nicht zu vergessen, Präsident Joe Biden, dem die Delegierten in der Arena am Montag eine viereinhalbminütige Standing Ovation bereiteten, allerdings um 10:26 Uhr lokaler Zeit nicht mehr zur besten Sendezeit. «Noch bleiben mir fünf Monate meiner Präsidentschaft», sagte der 81-Jährige mit kräftiger Stimme, fast nicht mehr wiederzuerkennen im Vergleich zu seinem desaströsen Auftritt in der Fernsehdebatte gegen Donald Trump: «Ich habe noch viel zu tun. Und ich habe vor, es auch zu tun. Es ist für mich die Ehre meines Lebens gewesen, als euer Präsident zu dienen. Ich liebe meinen Job, aber ich liebe mein Land noch mehr.»
Die übrigen Redner riefen alle, mehr oder weniger substanziell, die 20’000 Leute in der prallvollen Arena dazu auf, am 5. November Kamala Harris und Tim Walz zu wählen und Amerika vor Donald Trump zu retten. Vor allem Barack und Michelle Obama begeisterten das Publikum und liessen wohl beim einen oder bei der anderen im Publikum den Wunsch aufkommen, es wäre wieder 2008, als ein Plakat des späteren Präsidenten Obama mit dem Slogan «HOPE» weltweit zur Ikone wurde. 2024 hat der Künstler Shepard Fairey einem neuen Poster mit Kamala Harris die Tag-Line «FORWARD» verpasst: Die Hoffnung ist dem Optimismus gewichen.
Doch von konkreter Politik, von Identitäts-, Wirtschafts- oder Aussenpolitik, war in Chicago wenig die Rede, obwohl gerade Amerikas wirtschaftliche Lage Wahlentscheide beeinflussen dürfte, wie sie das erfahrungsgemäss stets tut. «It’s the economy, stupid», sagte Bill Clinton unvergesslich 1992 vor seiner ersten Wahl. Auch heute sind es Alltagsthemen wie die Preise von Lebensmitteln, Benzin und Immobilien, welche die Wählerschaft und deren jüngeres Segment vor allem beschäftigen. Auch Immigration war in Chicago kein breit angesprochenes Thema.
Gemeckert wurde jedoch von Medienschaffenden, die sich nicht über die mangelnde Qualität der Reden, sondern über enge Platzverhältnisse vor Ort beklagten. Auch behagte den mehr als 12’000 Vertreterinnen und Vertretern der herkömmlichen Presse der Umstand nicht, dass die demokratische Parteiführung erstmals mehr als 500 Influencerinnen und Influencer oder «content creators» für den DNC akkreditiert hatte, um ein junges, digital versiertes Publikum via soziale Medien zu erreichen – schmerzliches und besorgt kommentiertes Indiz für den schwindenden Einfluss traditioneller Medien. Deren Vertreterinnen und Vertreter murren auch, weil Kamala Harris ihnen bisher noch kein formelles Interview gewährt hat.
Im Vergleich zu vor vier Jahren sind dieses Jahr sieben bis neun Millionen Angehörige der Generation Z (zwischen 1997 und 2012 Geborene) erstmals wahlberechtigt. Damit sind die Zoomers zusammen mit den Millenials (zwischen 1981 und 1996 Geborene) zahlenmässig gleich stark geworden wie die Boomers (zwischen 1946 und 1964 Geborene) und ältere Generationen, die bisher den Löwenanteil der amerikanischen Wählerschaft ausgemacht haben.
Nicht verstecken liess sich am Parteitag in Chicago der Umstand, dass Israels Krieg in Gaza die Demokraten intern spaltet. Zwar sprachen sie sich nicht gegen die pro-palästinensischen Demonstrationen auf den Strassen der Stadt aus, wollten aber um jeden Preis verhindern, dass sich Bilder wiederholten, wie sie 1968 das demokratische Treffen in derselben Stadt getrübt hatten, als die lokale Polizei unter Bürgermeister Richard J. Daley brutal gegen Protestierende vorging, die Amerikas Krieg in Vietnam kritisierten.
Vizepräsident Hubert Humphrey, wie Kamala Harris aus Minnesota stammend, hatte damals zu lange gezögert, sich vom harten Kriegskurs seines zurücktretenden Chefs Lyndon Johnson zu distanzieren, was ihn damals die die Wahl gekostet haben dürfte. Humphrey rückte erst rund einen Monat vor dem Wahltag von seiner loyalen Position ab, was ihm, allerdings zu spät, einen mächtigen Aufschwung in den Umfragen bescherte. Gaza ist nicht Vietnam, doch Mark Twain hat einst bemerkt, Geschichte wiederhole sich nie, aber sie reime.
Zwar durfte sich der pro-palästinensische Protest auf der Strasse, nicht aber in der Arena und schon gar nicht zu bester Sendezeit vor den Fernsehkameras äussern. Offiziell durfte in Chicago keine Person palästinensischer Herkunft sprechen. Dagegen durften sich jüdische Amerikaner laut «Times of Israel» auf die Bühne des DND in «Starrollen» zeigen. Es wird sich zeigen, ob Amerikas arabisch-stämmige Wählerinnen und Wähler bis zum Wahltag ihren Zorn vergessen und für Kamala Harris stimmen oder ob sie sich am 5. November frustriert der Stimme enthalten und in einem Swing State wie Michigan Donald Trump unter Umständen den Weg ins Weisse Haus ebnen werden.
Höhepunkt des demokratischen Polit-Spektakels in Chicago war am Donnerstagabend Kamala Harris’ 38-minütige Rede zum Abschluss des Parteitags: «Unsere Nation hat mit dieser Wahl eine kostbare, flüchtige Gelegenheit, die Bitterkeit, den Zynismus und die spaltenden Kämpfe der Vergangenheit hinter sich zu lassen, eine Chance, einen neuen Weg nach vorne zu gehen – nicht als Mitglieder einer Partei oder Fraktion, sondern als Amerikaner.»
Harris attackierte Donald Trump, der sie als «Genossin Kamala» oder als «Marxistin» bezeichnet, und warnte, seine Rückkehr ins Weisse Haus würde «Chaos und Unglück» bewirken: «Bedenken Sie die Macht, die er haben wird, vor allem nachdem der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten gerade entschieden hat, dass er vor strafrechtlicher Verfolgung geschützt ist», sagte sie: «Stellen Sie sich Donald Trump ohne Leitplanken vor und wie er die immensen Befugnisse der Präsidentschaft der Vereinigten Staaten nutzen würde - nicht, um Ihr Leben zu verbessern, nicht, um unsere nationale Sicherheit zu stärken, sondern um dem einzigen Kunden zu dienen, den er je hatte: sich selbst.» Das ohrenbetäubende Feedback der Delegierten im United Center: «We’re not going back» – Wir gehen nicht zurück!
Nach Tagen pro-palästinensischer Proteste auf den Strassen Chicagos verteidigte die Präsidentschaftskandidatin in ihrer Rede sowohl Israels Recht auf Selbstverteidigung wie den palästinensischen Anspruch auf Selbstbestimmung. «Ich werde mich immer für Israels Recht auf Selbstverteidigung stark machen und werde stets sicherstellen, dass Israel sich selbst verteidigen kann», sagte Kamal Harris in Worten, die nur wenig dazu beigetragen haben dürften, Kritiker der Nahostpolitik der Regierung Joe Bidens in den eigenen Reihen zu besänftigen.
«Was in Gaza während der vergangenen zehn Monate geschah, ist verheerend», bemerkte sie, jedoch auch: «So viele unschuldige Leben verloren, verzweifelte, hungrige Leute, die wiederholt in Sicherheit fliehen, das Ausmass des Leidens ist herzzerbrechend.» Nun müsste in Kamala Harris nur noch die Einsicht reifen, dass die USA im Nahost-Konflikt eine viel aktivere Rolle spielen müssen und es nicht genügt, sich wiederholt «äusserst beunruhigt» oder «tief besorgt» zu zeigen, ohne daraus die nötigen Konsequenzen zu ziehen.
Wie üblich ging der Parteitag der Demokraten in Chicago auf einer patriotischen Note mit der Wolke rot-weiss-blauer Ballone von der Decke der Arena zu Ende – den Farben der amerikanischen Flagge. Kamala Harris, Tim Walz und ihre Partei dürften hoffen, dass die Ballone ihre hochfliegenden Erwartungen für die Präsidentenwahl am 5. November symbolisieren und nicht Hoffnungen, die auf dem harten Boden der Realität zerplatzen – wie die vergebliche Hoffnung der Delegierten, Beyoncé werde am letzten Abend auftreten oder Taylor Swift würde ihre Millionen Fans zur Unterstützung von Kamala Harris aufrufen. Bis zum Wahltag bleiben noch rund siebzig Tage, an denen viel passieren kann, im Guten wie im Schlechten. Zum Beispiel am 10. September, wenn die Demokratin und und Donald Trump sich am Fernsehren duellieren.